Ikonografie der Säuberung – Feindbilder im Roten Oktober

Vortrag von Gerd Koenen

In diesem Herbst jährt sich die Oktoberrevolution zum hundertsten Mal. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende der Sowjetunion hat zwar die weltpolitische Bedeutung, die dem „Roten Oktober“ zwischen 1917 und 1989/90 zugesprochen wurde, deutlich abgenommen. Gleichwohl wird dem Ereignis, das den Verlauf des „kurzen 20. Jahrhunderts“ maßgeblich prägte, vielerorts auf unterschiedliche Weise gedacht: So erscheinen unzählige Monografien und Sammelbände, Tagungen und Konferenzen werden abgehalten, Radiofeatures sowie (Dokumentar-)Filme produziert und Ausstellungen gezeigt. Auch die Linke kommt nicht umhin, sich dem Jubiläum zu stellen, wenngleich die Erinnerung an die Revolution nicht mehr ungebrochen erfolgen kann: Der erste große, langandauernde und geografisch weit ausgreifende Versuch, ein politisches Programm der sozialen Gleichheit nach der Übernahme souveräner staatlicher Macht zu realisieren, schlug alsbald in ein repressives und durchbürokratisiertes Projekt um, dass jegliche Opposition ausschaltete und die eigene Herrschaft nur mittels äußerster Gewalt aufrechterhalten konnte.

Die dem Sozialismus wohlgesonnene Linke wurde immer wieder von den Entwicklungen in der Sowjetunion herausgefordert: 1937/38 vom Großen Terror und den Moskauer Schauprozessen, 1939 vom Hitler-Stalin-Pakt, 1956 durch Chruschtschows Geheimrede oder 1968 von der Niederschlagung des Prager Frühlings. Verschiedene Strömungen reagierten auf diese Ereignisse mit mehr oder weniger weit reichender (Selbst-)Kritik. Trotzdem hängt der Oktoberevolution und ihrer unmittelbaren Folgezeit bis heute der Nimbus des emanzipatorischen kommunistischen Umsturzes auf dem Weg in die befreite Gesellschaft an, der unbedingt anzuerkennen und gegen reaktionäre Miesmacherei (etwa in Form der Totalitarismustheorie) in jedem Fall zu verteidigen sei. So heißt es in einer „Mitteilung“ der Interventionistischen Linken (IL) zum G-20-Gipfel in Hamburg etwa: „Es gibt dieses Jahr etwas zu feiern! […]100 Jahre Oktoberrevolution stehen für die Hoffnung auf eine Welt jenseits von autoritärem Kapitalismus.“ Und Stefan Bollinger (Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei) sekundiert, man müsse „bei aller Kritik und Selbstkritik die zivilisatorische Kraft der Russischen Revolutionen, der Bolschewiki, Lenins anerkennen“. Dem Blick zurück auf Lenin und in die Geschichte entnimmt die IL vor allem die „Gewissheit, dass Rebellion möglich ist“, und lädt daher alle „die mit uns Kämpfen wollen“ ein, sich „gemeinsam mit uns die Welt von morgen auszumalen“.

Die zukünftige bessere Welt braucht also Rebellen. Dem hätten auch die Bolschewiki 1917 nicht widersprochen. Sahen sie sich doch verwickelt in den weltweiten Klassenkonflikt, der, wie es Hannah Arendt formulierte, „unausweichlich auf einen letzten Entscheidungskampf“ zuzulaufen schien und aus diesem Grund zweierlei dringend bedurfte: Gegner und Feindbilder. Und davon gab es im (post-)revolutionären Russland viele. Nicht nur von den Parteikommunisten aller Länder, sondern auch von undogmatischen Linken wird mitunter die Erzählung tradiert, das große kommunistische Experiment, das 1917 gestartet wurde, sei erst von Stalin korrumpiert worden. Lenin habe lediglich, so formuliert es TOP B3rlin, „dem Kommunismus einen kleinen Schubs beim Entstehen geben“ wollen. Nun, die zu schubsende Front der Widersacher der Revolution war in der Tat breit: Zunächst natürlich die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Dann die Gegner im eigenen Land, ja im eigenen politischen Lager. Schließlich die Kontrahenten im Bürgerkrieg und nach 1945 der kapitalistische Westen. War es da nicht nur logisch, mit harter Hand vorzugehen? Das Vokabular der Logik ist verführerisch und wird gern genutzt. Kai Köhler in der jungen Welt: „Im Oktober gelang den Bolschewiki als konsequentesten Akteuren der Arbeiterklasse die Revolution.“ Wer sich über Zweck und Ziel der eigenen Politik im Klaren ist, dem fällt die Mittelwahl – wie scheinbar Stefan Bollinger – leicht: „Der Kampf gegen den Krieg, geschweige denn für eine sozial gerechte und demokratische Gesellschaft derjenigen die arbeiten, erforderte nicht Moralisieren oder Beten, sondern das Handeln mit allen Konsequenzen.“

Welche Opfer des Kommunismus dann im Speziellen sowieso oder gerade noch zu rechtfertigen sind, darüber streiten sich die Geister ebenso wie über die Frage, wann die Praxis des Sowjetkommunismus zum Problem wurde: Die einen meinen, selbst der Hitler-Stalin-Pakt habe angesichts der antikommunistischen Drohsignale der kapitalistischen Welt eine gutzuheißende „historische Notwendigkeit“ dargestellt. Die anderen sehen den Verrat an der Revolution in der Etablierung von Stalins Alleinherrschaft 1927, und für die dritten markieren schon der Abtritt Lenins von den Schalthebeln der Macht und ihr Übergang an das Triumvirat Kamenjew–Sinowjew–Stalin 1922/23 den Anfang vom Ende. Und für fast jeglichen Kollateralschaden der bolschewistischen Machthaber in den Wirren der unmittelbaren Nachrevolutionszeit findet sich eine Rationalisierung: Der aufgezwungene Kriegskommunismus, der Terror der Weißen, die Missernten, etc. pp. Aber das Ausfindigmachen, die Propagierung und die Anprangerung von Feinden war keine Spezialität von Stalin – auch wenn er die Bestimmung von zu verfolgenden Gegnern mit wahnhaftem Eifer perfektionierte. Schon die Bolschewiki unter Lenin sahen sich von Gegnern, Saboteuren, Kapitalisten, Bourgeois, Großgrundbesitzern, Anarchisten, Sozialrevolutionären, Zaristen und Menschewiken bedroht, ja eingekreist und verstanden es, ihre Anhängerschaft mittels entsprechender Feindbildkonstruktionen die Richtung der Rebellion vorzugeben. In Zeitungen, auf Flugblättern, in Reden, Liedern und allen zur Verfügung stehenden Medien wurden vermeintliche Konterrevolutionäre erbarmungslos gebrandmarkt – das ideologische Vorspiel zu ihrer Einschüchterung und Verfolgung, der schließlich die endgültige Ausschaltung folgen sollte.

Der Rote Salon hat Gerd Koenen eingeladen, um anhand eines bebilderten Vortrages Auskunft über die Ikonologie der „Revolutionsfeinde“ zu geben. Wer passte in den Augen der bolschewistischen Herrscher nicht in die „neue Zeit“ und mit welchen Mitteln wurde der Ausschluss sichtbar gemacht? Insbesondere zwei Fragen soll näher nachgegangen werden: Lässt sich ein Zeitpunkt bestimmen, zu dem Politik und Praxis der Bolschewiki von einem emanzipatorischen Projekt in einen jegliche Abweichung unnachgiebig verfolgenden „Krieg gegen das eigene Volk“ (Nicolas Werth) umschlugen? Und: War diese Entwicklung in den kommunistischen Ideen, wie sie die Protagonisten der Oktoberrevolution formulierten, angelegt oder ist die Eskalation auf andere, externe Einflüsse zurückzuführen?