Überall auf dem Kontinent erstarken nationalistische Parteien und Bewegungen, die vehement »weniger Europa« fordern oder zumindest ein anderes – ein »Europa der Vaterländer« – wollen. Mit dem Brexit wird der europäische Einigungsprozess erstmals seit seinem Beginn umgekehrt. Der Austritt weiterer Staaten aus der EU ist nicht auszuschließen. Im Fall eines Sieges von Marine Le Pen bei den 2017 in Frankreich anstehenden Präsidentschaftswahlen zeichnet sich ein antieuropäisches Horrorszenario ab.
Während im Inneren Europas der Zusammenhalt schwindet, zeigen sich an den Grenzen des Kontinents Herausforderungen, die längst vergangenen Zeiten entsprungen scheinen. Statt der nach dem Ende des Kalten Krieges vielfach prognostizierten Friedensdividende und der Entstehung eines »globalen Dorfs«, häufen sich mit der russischen Besetzung der Krim und der östlichen Ukraine, aber auch mit den Entwicklungen in der Türkei und dem Bürgerkrieg in Syrien geopolitische Konflikte und Kriege um Territorium und Einfluss, die an das Zeitalter des Imperialismus erinnern.
Umso mehr gilt Europa für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen, Zonen der politischen Unterdrückung und der Armut nach wie vor als Versprechen. Doch gerade der Umgang mit ihnen hat der Integration geschadet. Insbesondere kleinere EU-Staaten empfanden Angela Merkels Willkommenspolitik als Dominanz deutscher Interessen und deutscher Moral. Demgegenüber versuchte man nicht nur auf die eigenen ökonomischen Probleme, sondern vor allem auf die nationale Geschichte als Nichteinwanderungsländer zu verweisen. Damit verstärkte sich die Wahrnehmung einer verstörenden Differenz: Während sich die Politik hierzulande mit Ausnahme der AfD als proeuropäisch versteht und diesen Habitus mit wirtschaftlicher Nützlichkeit und als moralische Läuterung nach den Verbrechen des Nationalsozialismus begründet, wächst im Ausland der Widerstand gegen die europäische Integration, auch weil Deutschland als alte und neue Macht europäischer Hegemonialbestrebungen verdächtig ist.
Auch der Großteil der deutschen Linken kritisiert deutsche Dominanzbestrebungen, sieht darin jedoch in erster Linie den Ausdruck neoliberaler Kapitalinteressen. Geschichtspolitische Begründungen, die Europas Zusammengehen als erfolgreiche Demokratisierungs- und Friedenstrategie – als »Antwort auf die Geschichte« – verteidigen, gelten als vorgeschoben. Das derart entlarvte Integrationsprojekt erscheint nur noch als Europa des Kapitals, demgegenüber eine Rückkehr zur Volkssouveränität und zur sozialen Solidarität gefordert wird. Bewusst oder unbewusst nimmt diese Haltung die Zerstörung der gegenwärtigen europäischen Institutionen in Kauf und verschwimmt mit den Stimmen rechter Europakritiker, die ebenfalls die bürokratische Herrschaft des Finanzkapitals und die Entmündigung des Volkes beklagen.
Die Veranstaltung des Roten Salon folgt einer anderen Perspektive. So soll vor dem Hintergrund des historischen Kontextes der gegenwärtigen Desintegration der Fortschrittsgehalt der europäischen Einigung bemessen werden. Im Anschluss daran ist danach zu fragen, aus welchen Gründen viele Linke sich dieser Sichtweise verschließen und ob ihre Ablehnung der EU heute noch die richtige Antwort auf die europäische Krisendynamik ist.
Als Gesprächsgast erwarten wir mit dem Historiker Dan Diner, seit 2001 Professor für moderne europäische Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, einerseits einen ausgewiesenen Kenner der europäischen Geschichte, andererseits aber auch einen politischen Publizisten, der aus eigenem Erleben aber auch als Herausgeber der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik mit den Debatten der Linken vertraut ist.