Monotonie der Ablehnung

Obwohl Idee und Wirklichkeit des liberalen Westens von autoritären Regimen und der politischen Rechten herausgefordert werden, kann die Linke in ihm nichts anderes als ein Feindbild erkennen. Über Gegenwart und Geschichte einer verhängnisvollen Tradition. Von Ulrich Schuster

Die Mai-Ausgabe der Zeitschrift konkret zeigt die Konterfeis von Trump, Macron, May und Merkel montiert in eine Abbildung von Albrecht Dürers Holzschnitt Die vier apokalyptischen Reiter. Der mit der biblischen Schreckensvision illustrierte Leitartikel stammt aus der Feder des Herausgebers Hermann L. Gremliza. Sein Anlass waren die Luftangriffe der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs auf Syrien im April, die in Reaktion auf einen mutmaßlich vom regimetreuen Militär durchgeführten Giftgaseinsatz beschlossen wurden. Doch wie alle Kriege des Westens beruhe auch der gegen Syrien auf einer Lüge. Er richte sich nicht gegen den vermeintlichen Giftgaseinsatz Assads, sondern gegen Russland und China als Dauerzielscheibe westlicher Geopolitik. In Wahrheit gehe es darum, »die Landmasse zwischen Ostsee und Pazifik der Verwertung durch das Kapital einer Handvoll westlicher Führungsmächte zu unterwerfen«.[1]

Schlimmer als die Nazis

Der Antiimperialismus Gremlizas, der sich viel auf sein sprachliches Bewusstsein einbildet, ist mit einer rhetorischen Drastik gewürzt, die es in sich hat: So habe der »Endsieg des Kapitalismus […] die Verwertung aller materiellen Werte entfesselt und alle ideellen zertrümmert«. Der Wirtschaft und ihren Bediensteten aus Politik und Medien gehöre bereits »heute die ganze Welt«, doch wollten sie noch mehr Profit aus geraubten Ressourcen und eroberten Märkten schlagen. Kritische Erwägungen würden den Kriegsbefürwortern an ihren »vergoldeten Ärschen« vorbeigehen. Blindlings marschierten sie weiter, »bis alles in sehr kleine Scherben« fällt. Mit den Anspielungen auf NS-Parolen und den Propagandahit der Deutschen Arbeitsfront wird die von Profitinteressen bestimmte Handlungslogik der westlich-kapitalistischen Staaten mit der Irrationalität nationalsozialistischer Herrschaft auf eine Stufe gestellt. Der Wirkungszusammenhang allgemeiner kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten und konkreter, historischer Bedingungen erscheint als personalisierte Schuld geldgeiler Eliten der westlichen Kernstaaten, der das Zerstörungspotenzial der Nazis noch übertrifft. Demgegenüber werden die kapitalistischen Atommächte China und Russland als Opfer gezeichnet.

An der apokalyptischen Vision der konkret ist nur so viel richtig, dass der Zustand der internationalen Politik wenig Anlass zu Optimistismus gibt. Tatsächlich haben nach dem Ende der Blockkonfrontation Kriege und internationale Krisen zugenommen. Die Vielzahl zwischenstaatlicher Konflikte und die geopolitischen Rivalitäten zwischen alten und neuen Global Playern unterliegen nicht mehr stabilisierenden Regulierungsbedingungen wie zur Zeit des Kalten Krieges. Ethnische und religiöse Zugehörigkeiten sowie räumliche Bezüge, die sich an imperiale Einflusszonen des 19. Jahrhunderts anlehnen, bilden explosive Konstellationen, die sich allerdings nicht auf den Nenner eines westlichen, vom Mehrwertraub getriebenen Imperialismus bringen lassen.[2] Das Spottbild von konkret bietet keine angemessene Illustration einer unübersichtlichen Weltlage, die zweifelsohne von der globalen Herrschaft des Kapitals, aber ebenso von unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und historischen Entwicklungen geprägt ist. Stattdessen handelt es sich um die neuerliche Auflage eines alten Feindbildes, dessen Erklärungsanspruch in den ideologischen Verzerrungen vergangener Epochen wurzelt.

Krise des Westens

Erscheint der Westen bei Gremliza als Phalanx des Bösen – mächtig, geeint und in seiner Destruktionskraft geradezu omnipotent –, befindet er sich tatsächlich in der Krise. Fast alle westlichen Kernstaaten ringen mit Akteuren, die von innen auf eine Renationalisierung drängen. Nicht alles, was heute landläufig unter Populismus subsumiert wird, untergräbt das »Freiheitsnarrativ« (Michael Kimmage) des Westens.[3] Doch wird seinen Versprechen auf individuelle Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das Wunschbild einer homogenen Gemeinschaft unter autoritärer Führung entgegengesetzt, dann ist die normative Basis liberaler Staaten tatsächlich bedroht.

Die Renaissance der rechten Wunschvorstellung ethnischer Homogenität und das Ziel der Rückgewinnung nationalstaatlicher Handlungsmacht, wie es etwa auch in der Brexit-Entscheidung steckt, fallen nicht in eins. Beides sind aber Reaktion auf die sozialen Verwerfungen von Globalisierung und technologischer Modernisierung. Der Westen laboriert heute an den Folgen seines Wirtschaftsmodells. Soziale Ungleichheit, Angst vor Abstieg und Befürchtungen, im dynamischen Takt der technologischen Entwicklung nicht mithalten zu können, sorgen fast überall in Europa für den Auftrieb antiliberaler Kräfte. Die Volksparteien versprachen in ihrer konservativen und sozialdemokratischen Grundausprägung viele Jahrzehnte die Vereinbarkeit von sozialer Sicherheit und gemäßigter Modernisierung. Seit dem in den 1990er Jahren einsetzenden Globalisierungsschub stehen sie vor dem Dilemma, dass soziale Anwartschaften weiterhin nationalstaatlich organisiert werden, dies aber der Realität von Einwanderung und neuen Formen gesellschaftlicher Zugehörigkeit widerspricht. Ein Ergebnis ist die tendenzielle Destabilisierung des politischen Systems. Neue Parteien machen den ehedem etablierten die Wähler streitig und populistische Bewegungen stellen die parlamentarische Repräsentation gesellschaftlicher Interessen infrage.

Zugleich wird der Westen von China und Russland herausgefordert, die mit staatlich gelenktem Kapitalismus und autokratischer Herrschaft für steigenden Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten und innere Stabilität sorgen. Ihr Aufstieg geht mit wachsender militärischer Stärke und globalen Interessen einher, die in der Ukraine, in Syrien, in der Asien-Pazifik-Region und an anderen Brennpunkten mit denen des Westens in Konflikt geraten. Obwohl er sich also geopolitisch neuen Rivalen gegenübersieht, bröckelt seit dem Ende des Kalten Krieges der Zusammenhalt des Westens. Die transatlantischen Institutionen EU und NATO sind von Friktionen zwischen ihren Mitgliedern geprägt. Ökonomische Konkurrenz und sicherheitspolitische Dispute produzieren Desintegration, wie sie sich etwa in der Griechenlandkrise, am Brexit oder dem wiederholten Ausscheren Deutschlands bei militärischen Interventionen des Westens im Irak, Libyen oder Syrien zeigte.

Der Trump-Faktor

Inwiefern Donald Trumps undurchsichtige Diplomatie über tagespolitische Ereignisse hinaus zur Verschärfung dieser Krise beiträgt, ist noch nicht abzusehen, aber es ist zu befürchten. Der Präsidentendarsteller, der mit seiner Entscheidung zur Bombardierung syrischer Militäranlagen Russlands weltpolitischen Ambitionen vermeintlich Grenzen aufzeigte, reicht dem Despoten Putin nur wenige Monate später kumpelhaft die Hand, weil er Deals unter starken Männern mehr zu schätzen scheint als die transatlantische Partnerschaft. Falsch wäre es indes, die Vorgehensweise Trumps als Ursache der grundlegenden Differenzen anzunehmen, sie bringt sie lediglich freiheraus auf den Tisch.

Das zeigt etwa der Streit über die NATO-Finanzierung. In der Sache reaktivierte Trump nur Positionen seiner Vorgänger. Unstimmigkeiten über die Lastenteilung sind so alt wie das westliche Bündnis selbst. Schon Konrad Adenauer und Helmut Schmidt wehrten sich gegen amerikanische Forderungen, die NATO-Beiträge zu erhöhen. Die Regierungen des wiedervereinigten Deutschland verfahren nach dem gleichen Muster. Tatsächlich hatten alle Mitgliedstaaten bereits 2002 beschlossen, ihre Militärhaushalte an der Marke von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu orientieren; 2014 wurde dann unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim ihre verbindliche Einhaltung bis 2024 vereinbart. Gleichwohl verharrte der deutsche Verteidigungsetat bei etwa 1,2 Prozent des BIP. Unter der Maßgabe von Bündnissolidarität gab und gibt es für amerikanische Unzufriedenheit also genügend Anlass.

Mit dem Wegfall des Systemkonflikts findet die Auseinandersetzung über den Preis der Bündnisintegration auf bröckelnder Grundlage satt. Weil sich der geostrategische und ideologische Kitt des Westens aufgelöst hat, verfolgen einzelne Staaten abweichende Bündnisoptionen. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre prognostizierte John J. Mearsheimer, Vertreter der neorealistischen Denkschule in den Internationalen Beziehungen, ein gesteigertes Autonomie- und Einflussstreben der jeweiligen NATO-Mitgliedstaaten.[4] Trump stellt sie nun tatsächlich unverblümt zur Disposition, nicht ohne 24 Stunden später an einer Allianz mit gerechterer Lastenverteilung festzuhalten. Das Hin und Her ist Abbild der porösen Struktur der westlichen Allianz.

Was hierzulande droht, wenn sich die Tendenz zur Renationalisierung fortsetzt, lässt sich an den Reaktionen der deutschen Politik ablesen. Nachdem Trump im Mai 2017 Deutschlands Bündnisbeitrag als unzureichend kritisiert hatte, verkündete Kanzlerin Angela Merkel das Ende der amerikanischen Verlässlichkeit. Europa müsse jetzt sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Noch offensiver fiel die Reaktion des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz aus: Europa solle »vor allem […] mit Selbstbewusstsein« auf die amerikanischen Forderungen reagieren und sich der »Aufrüstungslogik eines Donald Trump nicht unterwerfen«.[5] Ähnliches war von Katja Kipping (Linkspartei) und vom grünen Spitzenpolitiker Jürgen Trittin zu hören.

Die ostentativsten Einforderungen nationaler Selbstbehauptung gegen Amerika kommen immer wieder von links. Zwar geißelten alle politischen Entscheidungsträger in Deutschland Washingtons Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran, doch der Verleger und Chefredakteur des Freitag, Jakob Augstein, prangerte in seiner Spiegel-Online-Kolumne ›Im Zweifel links‹, Deutschlands unterwürfige Haltung an: Weil die Deutschen sich nicht am »antiimperialistischen Kampf« gegen Amerika beteiligen würden, hielt er ihnen in Abwandlung des traditionsreichen Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung »Feigheit vor dem Freund« vor.[6] Oskar Lafontaine schimpfte die Amerikaner auf Facebook »verlogenes Pack«, »Kriegstreiber« und »Brandstifter«. Sie seien »nicht zum Frieden geeignet«. Er forderte daher die selbstbewusste Vertretung deutscher Interessen ein.[7]

Nach dem jüngsten Nato-Gipfel im Juli war es nicht anders: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen rief dazu auf, sich »nicht immer die Agenda von Trump bestimmen [zu] lassen«.[8] Ex-Außenminister Sigmar Gabriel warf Trump vor, in Deutschland einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen, was »wir uns schwer bieten lassen« können.[9] Der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, zürnte, weil sich Merkel der amerikanischen »Aufrüstungsideologie unterworfen«[10] habe und der in Sachen Amerikafeindschaft notorische Oskar Lafontaine resümierte mit dem Hinweis aus dem Arsenal der Reichsbürger, Deutschland sei »auch viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg […] immer noch kein souveränes Land«.[11]

Amerika ist schuld

Die Reaktionen der deutschen Politik geben also kaum anders als Trumps Drohungen, das westliche Bündnis abzuwerten und eigene Wege in der Weltpolitik zu gehen, einer zunehmend nationalisierten Interessenpolitik Ausdruck. Insofern erweist sich die allgegenwärtige Zuschreibung, Trump trage die Hauptschuld, eher als Reflex, denn als treffende Analyse. Amerikakritische Haltungen dominierten auch vor Trumps Zick-Zack-Diplomatie. Schon Ronald Reagan (Amtszeit: 1981–1989) blieb den meisten Deutschen als Wettrüster im Gedächtnis. George H. W. Bush (1989–1993) und sein Sohn George W. (2001–2009) galten beide als ›Kriegstreiber‹. In Bill Clinton (1993–2001) und Barack Obama (2009–2017) setzte man hingegen große Hoffnungen; sie seien zurückhaltende Außenpolitiker. Als sie sich gleichwohl als Verteidiger amerikanischer Sicherheitsinteressen exponieren mussten, verwandelte sich die projektive Sympathie schnell in herbe Enttäuschung. Insofern ist die Ablehnung von Trump kein Sonderfall. Wenn allerdings Amerikas Präsident heute selbst von Verteidigern guter transatlantischer Beziehungen als derjenige angegriffen wird, der »als erster US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg […] Idee und Institutionen der liberalen internationalen Ordnung grundsätzlich infrage«[12] stellt, wie in einem unter anderem vom Geschäftsführer des Zentrums Liberale Moderne, Ralf Füchs, unterzeichneten Manifest geschehen, dann ist schon wieder vergessen, dass der Vorwurf »Amerika zerstört den Westen«[13] zur Begleitmusik der Irakkriegskontroverse und der Debatte über den Krieg gegen den Terror gehörte.

Das unablässige Tremolo der Amerikakritik findet in der Volksmeinung seinen Widerhall. Laut einer aktuellen Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach wird das Auftreten der Vereinigten Staaten hierzulande überwiegend als Dominanz empfunden. 66 Prozent der Deutschen haben den Eindruck, die Vereinigten Staaten vertreten ihre Interessen rücksichtsloser als andere; eine Mehrheit von 54 Prozent schätzt den amerikanischen Einfluss als negativ ein; 40 Prozent sehen von Washington die größte Gefahr für den Weltfrieden ausgehen.[14] Im breiten Strom der anhaltenden Ablehnung Amerikas schwimmt der linke Antiimperialismus mit.

When NATO becomes history

Tatsächlich wittert die antiimperialistische Linke gegenwärtig Morgenluft. Zumindest betrübt sie die Krise des Westens nicht. In konkret beschrieb Jörg Kronauer ihn jüngst fast richtig als von Interessengegensätzen durchzogenes Überbleibsel des Kalten Krieges, natürlich ohne seine zivilisatorische Dimension zu würdigen. Rhetorisch fragte er, ob der Westen nun tatsächlich zerfalle, um mit Bedauern zu antworten: »Wenn’s so einfach wäre.« Die eigenartige »Mischung aus Kooperation und Konfrontation«, rieche zwar »merkwürdig«, unklar sei aber, ob es sich schon um Leichengeruch handle.[15] Alexander Neu, Mitglied des Bundestags für Die Linke, würde es »sehr, sehr begrüßen, wenn die US-Amerikaner deutschen Boden verlassen würden – inklusive ihrer 20 Atombomben, die in Büchel noch gelagert sind«.[16] Und die Tageszeitung Junge Welt freute sich über Tausende von Demonstranten, die anlässlich des NATO-Gipfels in Brüssel die Forderung erhoben, die Allianz auf den »Misthaufen der Geschichte« zu werfen. 

Wenn es Make NATO History heißt, marschieren straßenkampfaffine Mitglieder der Interventionistischen Linken (IL) mit den DDR-Sympathisanten der DKP »Seit an Seit«. Es muss etwas anderes sein als ein pazifistischer Impuls, wenn die Junge Weltgegen das Sicherheitsbündnis der westlichen Staatenwelt unter anderen die ›Soldaten für den Frieden‹ zu Wort kommen lässt, bei denen es sich um die »Führungsspitze der ehemaligen DDR-Streitkräfte« handelt. Ihre sicherheitspolitische Integrität äußert sich in der verlogenen Selbstauskunft, Frieden sei schon immer »die wichtigste Maxime« ihres Handelns gewesen, weshalb sie heute umso entschiedener dagegen protestieren, »dass der militärische Faktor erneut zum bestimmenden Instrument der Politik wird«.[17]

In dieser Front gegen den westlichen Imperialismus, als dessen nahöstlicher Exponent bekanntlich Israel gilt, darf natürlich Pax Christi nicht fehlen, die zum Kaufverzicht von Waren aus israelischen Siedlungen aufrufen. Demonstrationen gegen die NATO werden nicht zuletzt von Jeremy Corbyn (Labour Party) unterstützt, dem zum Staat der Holocaustüberlebenden nichts Positives einfällt[18] sowie von Noam Chomsky und Tariq Ali, prominente Befürworter von Boycott, Divestment and Sanctions (BDS).

Anschlüsse

Nur bekennende Nazis, Querfrontler und Ethnopluralisten dürfen nicht mitmachen, obwohl sie den Westen und Amerika schon immer mit ehrlichem Herzen bekämpft haben. Inhaltlich überschneiden sich ihre Positionen mit linkem Ressentiment; etwa in der Gleichsetzung der Dynamiken des Weltmarktes mit Entscheidungen amerikanischer und europäischer Eliten. Zudem findet der rechte Furor gegen den Materialismus von Marktgesellschaften, die individualistische Herabsetzung der Gemeinschaft und die Entfremdung kultureller Traditionen durch universalistische Werte in linken Hoffnungen auf die Widerstandspotenziale unterdrückter Völker seine Resonanz.

Ein Beispiel ist die Kataloniensolidarität von Gruppen wie der IL. Anlässlich des letztjährigen Unabhängigkeitsreferendums überschrieb das Bündnis seine Solidaritätsadresse für die separatistische Bewegung mit »Alles Gute zum Tag der katalanischen Einheit.«[19] Obwohl nur 42,5 Prozent der circa fünf Millionen Wahlberechtigten am Urnengang teilnahmen, es über 100.000 Nein-Stimmen sowie Tausende ungültig gemachte Stimmzettel gab und sich in Umfragen etwa die Hälfte der Einwohner gegen die Abspaltung ausgesprochen hatte, wurde der Ausgang des Referendums zum einheitlichen Volkswillen erklärt. Im Gegensatz zu Deutschland, wo nur »die scheinbare Einheit unter Neoliberalismus und Kapitalismus« gefeiert werde, würden »die Menschen in Katalonien […] für ein Leben in Würde und Freiheit« kämpfen. Dass auf diese Weise jene Bevölkerungsteile entmündigt wurden, die den katalanischen Ethnonationalismus ablehnen, weist ebenso in Richtung rechter Identitätspolitik wie die Aussage, die Unabhängigkeitsfreunde hätten vor allem »Würde« und »Freiheit« im Sinn. Als individuelle Rechte im Geltungsbereich kapitalistischer Demokratien sind Menschenwürde und bürgerliche Freiheit in Spanien durchgesetzt. Erst die Annahme einer ethnozentrischen Selbstidentifikation und der absurde Glaube, die kulturelle Autonomie der Katalanen werde vom spanischen Imperialismus unterdrückt – was schon angesichts der katalanischen Amtssprache wenig plausibel ist –, gibt dem Kampf der Separatisten einen Sinn, der allerdings ein rechter ist.

Fortschritt und Verbrechen

Ideengeschichtlich geht der linke Traum von der Befreiung auf die bürgerlichen Revolutionen zurück, während sich die Rechte stets als Opponent des Liberalismus verstand. Doch obwohl despotische, klerikale und autoritäre Regime den zwischenzeitlichen Siegeszug von am westlichen Vorbild orientierten Demokratien, wie er sich nach 1990 insbesondere in Osteuropa Bahn brach, mittlerweile gestoppt haben, verteidigen Linke die Lebensverhältnisse in den westlichen Kernländern nicht als Modell des historischen Fortschritts. Wer dies versucht bekommt die Leichen der ursprünglichen Akkumulation und des Kolonialismus in Rechnung gestellt.[20]

Zweifelsohne kann sich der Westen seiner Verbrechensgeschichte nicht entziehen. Steigendes Wohlstandsniveau und Warenreichtum gingen nicht nur mit der Eingrenzung zwischenmenschlicher Gewalt, sozialer Differenzierung und der Ausbildung bürgerlicher Umgangsformen einher, sondern beruhten gerade in ihren Anfängen auf der gewaltsamen Durchsetzung des Fabrikregimes sowie Unterwerfung und Massenmord in der Neuen Welt. Auch die 1789 propagierten Werte ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ wurden im Rahmen kolonialistischer Praxen gerade von den Ursprungsländern des Liberalismus missachtet. Als universeller Orientierungspunkt der Emanzipation gingen sie jedoch nicht verloren. Die Sklaven von Saint-Domingue schmetterten im Aufstand von 1791 ihren französischen Kolonialherren die Marseillaise entgegen, die Aufhebung der Sklaverei dokumentierte ebenso wie die Gewährung von Bürgerrechten für Frauen und religiöse Minderheiten die Sprengkraft der Europa und Amerika entstammenden Ideen. Ihr Ursprungsort machte sie zu westlichen Werten, ihre im Vergleich zu anderen Weltgegenden umfassendere und institutionell stärker abgesicherte Geltung in einigen Staaten macht diese noch heute jenseits geografischer Lagen zum ›Westen‹.

Die konstitutionell verankerten Freiheitsrechte des Individuums, demokratische Teilhabe sowie geschlechtlich, kulturell und religiös pluralistische Existenzmöglichkeiten werden zwar von Linken als lebensweltliche Existenzgrundlage gern in Anspruch genommen, nicht aber offensiv gewürdigt. Stattdessen dient das historische Bewusstsein für die Möglichkeit des Umschlagens demokratischer Verhältnisse als Imprägnierung gegen die Anerkennung existenzieller Unterschiede in der Staatenwelt. Schon für die Neue Linke nach 1968 erleichterte die Bezeichnung des repressiven Antikommunismus im Westen als Faschismus die Solidarität mit totalitären Staaten wie Albanien, China, Jugoslawien, oder eben als DKPler mit der Sowjetunion und der DDR. In den letzten Jahrzehnten verwischten die Warnungen vor einem ›autoritären Etatismus‹, der sich in den westlichen Staaten entwickle, die begriffliche Unterscheidung zu den zweifelsohne autoritären Regimen der Khameneis, Erdogans, Putins und Xi Jinpings.

Das linke Verständnis für islamistischen Terror treibt diese Indifferenz auf die Spitze. Dass der Westen das eigentliche Problem sei und seine Institutionen als Werkzeuge kapitalistischer Landnahme und kultureller Durchdringung abgelehnt werden müssten, fand sich nach dem 11. September 2001 in paradigmatischer Form im Buch des Politikwissenschaftlers Gazi Çağlar Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Der Autor forderte, den »fundamentalistischen Terror« nicht »ohne einen Blick […] auf die ökonomisch-kulturelle und militärische Kolonialisierung, die eine terroristische Vereinheitlichung vorgefundener Sprachen und Wahrnehmungen betreibt«, zu erklären. »Wie Piraten« würden »die Mächte der kapitalistischen Moderne unter dem Banner der Menschenrechte – und im Schlepptau NATO und Hollywood – in das ›Andere‹« einfallen und »den Schatz der alten Imaginationen und alten Weltbilder« plündern. Weil die »kolonisierten Völker […] angesichts der ökonomischen Barbarei« der Metropolen »zu anderen Gefühlsregungen nicht imstande sind«, könnten sie einzig »mit regelmäßigen Ausbrüchen von Hass« reagieren.[21]

Die Abschirmung der solcherart idealisierten ›Anderen‹ vor Kritik und die Abwertung der kapitalistischen Moderne gegenüber einer guten Kultur des Althergebrachten entspringt der Sehnsucht nach schicksalhafter Unveränderlichkeit. Die besagten Formulierungen transportieren jenen Kulturalismus, den sie angeblich kritisieren. Solche Projektionen führen bis heute zur Unfähigkeit, sich mit islamisch gerechtfertigter Menschenverachtung auseinanderzusetzen. Ob in den Debatten nach Silvester 2015/16 oder im Anschluss an die sexuellen Übergriffe in Kulturzentren wie dem Conne Island in Leipzig – wer auf das »sexuelle Elend der arabischen Welt« (Kamel Daoud)[22] hinweist und die Prägung durch ein fundamentalistisches, vor allem auch im Islam verankertes Frauenbild thematisiert, muss mit dem Vorwurf der Islamophobie rechnen. Im Umgang mit der Islamistin Linda Sarsour, eine der vier Hauptorganisatorinnen des Women‘s March on Washington (2017), zeigte sich, wie schwer Linken die Positionierung im Wertekonflikt zwischen islamischem Fundamentalismus und westlichem Freiheitsversprechen fällt. Obwohl das »Brooklyn Homegirl in a Hijab« (New York Times) strenggläubig ist, die Scharia verteidigt, zum Dschihad gegen den »Faschismus im Weißen Haus« aufruft und das anti-israelische BDS-Netzwerk unterstützt,[23] erfuhr sie Kritik einzig von konservativen und liberalen Politikern, während sie weltweit auf linke Fürsprache zählen konnte.

Geschichte einer Feindschaft

Die linke Verteidigung des Autochthonen geht auf den Kalten Krieg zurück.[24] Nachdem die vormalige Staatenordnung zerstört war, flammten nach 1945 in Algerien, Vietnam und anderswo antikoloniale Kämpfe auf. In semantischer Anspielung auf den Begriff des Dritten Standes avancierte nun die Dritte Welt zum Träger revolutionärer Umwälzungen, da in ihr ähnlich den Bauern und Bürgern im Ancien Régime eine rechtlose Bevölkerungsmehrheit als Souverän der Geschichte gesehen wurde.

Für die Linke bot die Trikont-Solidarität einen Ersatz für unerfüllte Hoffnungen. In den kapitalistischen Metropolen nahm mit dem wachsenden Wohlstand das revolutionäre Bewusstsein ab, die Grenzen zwischen Arbeiterklasse und Mittelschichten verschwammen. Hinzu kam die Ernüchterung über die Sowjetunion, der noch im Zweiten Weltkrieg viele Sympathien entgegengebracht worden waren, die sich aber mit der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 nicht als Unterstützerin der Freiheit, sondern als östliche Hegemonialmacht offenbarte. In der Folge sollte auf Jahrzehnte hinweg das Muster eines Kampfes zwischen der Ersten und der Dritten Welt – ideologisch von marxistischen Imperialismustheorien gestützt – die linke Wahrnehmung weltpolitischer Konflikte bestimmen. Insbesondere der Leninsche Ansatz, wonach die Akkumulationsprobleme des Kapitals zu Monopolisierungstendenzen führen und die Industriestaaten, getrieben von Finanzoligarchie und Monopolkapital, zur Sicherung ihrer Profite die Aufteilung der Welt anstreben, versprach eine scheinbar materialistische Welterklärung. Zudem bot die Diagnose, der Imperialismus sei als höchstes Stadium des Kapitalismus zur Ausbeutung von Kolonien gezwungen, was in der Folge im Aufbäumen ›unterdrückter Völker‹ gegen die wachsende ›Fremdherrschaft‹ resultiere, eine Handlungsorientierung für Metropolenlinke. Benötigt der Kapitalismus die Kolonien zu seiner Reproduktion, so treffe die Unterstützung des antikolonialen Kampfes direkt in das ›Herz der Bestie‹.

Als Konsequenz gerieten der Westen und insbesondere seine amerikanische Führungsmacht zum Feindbild, die ›unterdrückter Völker‹ zur positiv besetzten Projektionsfläche. Dabei beruhte die Wahrnehmung der Vereinigten Staaten als Gegner des Fortschritts und der Freiheit nicht auf reiner Einbildung. Zwar hatten sie Nationalsozialismus und Faschismus bekämpft, doch seit den 1950er Jahren wurden sie aus Angst vor dem Kommunismus zum Sachwalter der untergehenden Kolonialreiche. In Südamerika setzten sie ihre antikommunistisch begründeten geostrategischen Pläne mithilfe von Militärdiktaturen durch. Diese Zweckbündnisse gingen über Leichen. Die Partikularität des westlichen Freiheitsversprechens wurde umso deutlicher, als die vom sowjetischen Block unterstützen Entwicklungsdiktaturen in der Tat gesellschaftliche Verbesserungen anstrebten. In Angola, Kuba, Nicaragua und anderen von Kolonialmächten oder Militärdiktaturen befreiten Staaten erfolgten die formalrechtliche Gleichstellung der Frau sowie Maßnahmen zur sozialen Grundversorgung und Realisierung von Bildungsgerechtigkeit. Nichtsdestotrotz zeigte sich erneut der potenziell universelle Charakter der westlichen Wertekonzeption, da sie sowohl Referenzpunkt und Ermöglichungsbedingung der Proteste gegen den Antikommunismus blieb als auch in den Forderungen der Befreiungsbewegungen selbst präsent war. So hatte etwa die erste Verfassung Nordvietnams die der Vereinigten Staaten zum Vorbild und Ho Chi Minh erinnerte Richard Nixon in Briefen noch während der amerikanischen Invasion daran, dass der vietnamesische Befreiungskampf dem historischen Projekt antikolonialer Unabhängigkeit folge, dessen Produkt auch die Vereinigten Staaten seien.[25]

Der linke Antiimperialismus stabilisierte sich indes nicht nur mithilfe berechtigter Empörung. Zur Sublimierung revolutionärer Energie gehörten die Verklärungen ethno-kultureller Rückständigkeit und die Abwehr westlicher Modernisierung. In Deutschland kamen Motive projektiver Geschichtsentlastung hinzu. Der Kampf gegen die USA entsprang einer »befreienden Verschiebung«, die in der linken Parole ›USA–SA–SS‹ ihren grellen Ausdruck fand.[26]

Fortwesen des Antiimperialismus

1989/90 zerfiel der Rahmen antiimperialistischer Welterklärung. Von der Ost-West-Konfrontation überdeckte politische Kategorien entfalteten neue Gestaltungskraft. Das Denken in ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten wie auch geopolitische Orientierungen entstammten der Erbmasse der Imperien des 19. Jahrhunderts. In Europa markierte der Zerfall Jugoslawiens in sich bekämpfende bosnische, kroatische, serbische und slowenische ›Völker‹ sowie sich feindlich gesonnene orthodoxe, katholische und muslimische Gläubige die Rückkehr einer im Kalten Krieg verdrängten Geschichte. Die Konfliktparteien bedienten sich aus Arsenalen, die bereits während der Nationalitätenkämpfe im Habsburger und Osmanischen Reich befüllt worden waren.

Unter diesen Bedingungen machte die Unterscheidung von Imperialismus und Antiimperialismus, erster und Dritter Welt vollends keinen Sinn mehr. Zumal sich die Gegner westlicher Ordnungsversuche nicht mehr der Kategorie ›Fortschritt‹ zuordnen ließen. Doch beharrten viele antiimperialistisch sozialisierte Linke auf den eingeübten Deutungsmustern, weil sie angesichts der von Massen getragenen Revolutionen gegen den Staatsozialismus und der offenkundigen Begeisterung für liberale Formen bürgerlicher Herrschaft einen Rest an Orientierung versprachen. Dementsprechend wurde in einem Positionspapier des zu Pfingsten 1990 ausgetragenen Kongresses der Radikalen Linken die Demokratisierung des Ostens als »Kolonisierung […] durch BRD, EG und NATO« begriffen. Aufgabe der Linken sei es daher, die »Zersetzung von NATO und EG« sowie den »Austritt der BRD aus der NATO« voranzutreiben.[27]

Im Jahr 2009, anlässlich der Feiern zum Mauerfalljubiläum, zeigte sich das linksradikale Ums-Ganze-Bündnis nicht viel klüger. So hielt man den Repräsentanten der Berliner Republik ausgerechnet vor, sie würden Deutschland in die »Riege bürgerlicher Musterstaaten« drängen. Das Ansinnen, sich mit den Gedenkfeierlichkeiten »eine revolutionäre Gründungsurkunde wie England, Frankreich und die USA« auszustellen, kritisierte Ums Ganze aber nicht wegen der Anrufung völkischer Einheit im Vereinigungsprozess und den folgenden pogromartigen Angriffen auf Asylsuchende, obwohl doch gerade dies die Prekarität der Liberalisierung aufzeigte. Stattdessen wurde die bürgerliche Freiheit auf jene der kapitalistischen Konkurrenz reduziert, »deren Brutalität […] durch Vergleiche mit den Staatszwängen des Realsozialismus, oder mit dem Wüten der Volksgemeinschaft im NS« auch nicht besser werde.[28] Mit einem Federstrich waren so jene Unterschiede kassiert, die ausschlaggebend dafür waren, dass Flüchtlinge aus NS-Deutschland und der DDR zuvorderst in westlichen Demokratien Aufnahme erhofft hatten. Die Nivellierer von Ums Ganze weigerten sich, in bürgerlichen Verhältnissen mehr zu sehen als kapitalistische Landnahme. Kapitalismus galt ihnen in schlechter linker Tradition vor allem als Imperialismus.

Die deutsche Frage

Auch die frühe Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch die deutsche Außenpolitik ließ sich als Rückkehr nationaler Hegemoniekämpfe in Europa deuten. Offen schien nun wieder, auf welche Weise die ökonomisch potenteste und bevölkerungsreichste ›Macht in der Mitte‹ die staatliche Ordnung des Kontinents zu beeinflussen sucht. Die Unterstützung der ethnisch-territorialen Nationalisierung auf dem Balkan konnte als Bekenntnis gegen konfessions- und herkunftsübergreifende Verfassungsprinzipien und Widerspruch gegen den Kernbestand des liberalen Konstitutionalismus des Westens verstanden werden. Zugleich stellten im wiedervereinigten Deutschland Kräfte rechts der Mitte die Westorientierung infrage. Eine ganze Reihe prominenter Historiker, politischer Berater, Journalisten, Berufsoffiziere und konservativer Intellektueller zogen Sinn und Zweck der Westbindung in Zweifel.[29]

Die Offensive der rechten Antiwestler brachte die Linke dem Westen keinen Schritt näher. In der militärischen Intervention der NATO auf dem Balkan erkannte sie nur einen neuerlichen amerikanisch dominierten Raubzug. Selbst die Minderheit antideutscher Linker, die aus geschichtspolitischen Erwägungen eine Ahnung von den zivilisatorischen Effekten der Westbindung hatte, entpuppte sich als Gegnerin der Ordnungspolitik im zerfallenden Jugoslawien. Während sie dem damaligen grünen Außenminister Joschka Fischer vorwarf, in falscher Analogie das Massaker von Srebrenica mit Auschwitz gleichzusetzen, riefen sie selbst unentwegt die Konstellation des Zweiten Weltkriegs auf, um den antideutschen Antiimperialismus zu plausibilisieren. Deutschland wiederhole mit der Unterstützung von Kosovoalbanern und Kroaten die nationalsozialistische Balkanpolitik und habe mit dem Kurs der ethnischen Parzellierung Europas Amerika in den Krieg gezwungen.[30] Im Ergebnis dieser anachronistischen Übertragung fanden sich die Antideutschen an der Seite der Traditionslinken wieder und nahmen gemeinsam mit China und Russland das Regime Slobodan Miloševićs in Schutz.

Das Bewusstsein für die Westbindung als Garantie der Zivilisierung des vormaligen ›Dritten Reichs‹ blieb dagegen marginal. Daniel J. Goldhagen, der Autor von Hitlers willige Vollstrecker, oder Andrei S. Markovits, der noch 1997 für seinen Widerspruch gegen Martin Walsers Paulskirchenrede viel Beifall von der Linken bekam, erfuhren für ihre positive Bewertung der Verwestlichung Deutschlands Kritik.[31] Beide plädierten dafür, die Massaker auf dem Balkan als Bedrohung eines universellen Humanismus ernst zu nehmen und das Handeln der westlichen Staatenwelt inklusive Deutschlands zu unterstützen.[32] Vernünftig betrachtet könne weder die Bundeswehr mit der Wehrmacht noch die von demokratischen Institutionen geprägte Bundesrepublik mit dem ›Dritten Reich‹ gleichgesetzt werden.[33]

Der Westen als Fluchtpunkt?

Die nach 9/11 folgenden Debatten haben die gängigen Betrachtungsweisen kaum verändert. Der Antiterrorkampf fügte sich zumindest für die meisten Linken nahtlos in die traditionellen imperialismustheoretischen Annahmen ein, auch wenn er sich in ökonomischer Hinsicht als völlig gescheitertes Projekt erweist. Und in den Diskussionen über Einwanderung und Islam negieren multikulturelle Toleranzedikte und der Hautfarbenessenzialismus von Critical Whiteness das Ideal einer ungeteilten Menschlichkeit.

Davor in die neuerdings wieder auflebende Hoffnung von vornehmlich Linksliberalen zu flüchten, ein starkes Europa könne dem westlichen Liberalismus neue Energie einflößen, lässt sich verstehen, bleibt aber hinsichtlich der Erfolgsaussichten ungewiss. Schon weil sie die Gefahr der ressentimentgeladenen Abgrenzung von Amerika in sich trägt, womit ein guter Teil des westlichen Freiheitsnarrativs verloren gehen würde. Zudem bleibt ein ›europäischer‹ Westen Austragungsfeld von Standortkonkurrenz. Unterschiedliche Wohlstandsniveaus, ökonomische Produktivität und Prinzipien der Haushaltsführung reiben sich auch in Europa.

Damit soll keiner ökonomistischen Endzeitbestimmung das Wort geredet werden; Standortlogik und Konkurrenz treiben den Westen nicht zwangsläufig auseinander, denn sie wirkten schon vor 1989. Doch selbst wenn die westlich orientierten Staaten Amerikas, Asiens, Europas, Ozeaniens und Südamerikas weiterhin kooperativen Initiativen zugänglich bleiben, erweisen sich die Zentrifugalkräfte doch gegenwärtig als um einiges stärker. Und diese Desintegration wird immer wieder von der deutschen Politik befeuert. So wie sich die Regierungen der letzten Jahrzehnte an der Renationalisierung im transatlantischen Verhältnis beteiligten und ihr nicht, wie in öffentlichen Debatten suggeriert, machtlos gegenüberstanden, so versuchte die deutsche Europapolitik im Tonfall der Hegemonie und von einer Warte haushalts- oder geschichtspolitisch angemaßter Überlegenheit aus andere Staaten zur Anpassung an eigene Vorgaben zu drängen.Angesichts der Krise des Westens wäre es eine vernünftige linke Haltung, solchen Tendenzen kritisch gegenüberzustehen. Denn klar sollte sein, dass eine multipolare Welt ohne den Westen keine bessere ist. Sein Ende fördert weder eine stabile, Frieden und Konfliktlösungen sichernde Ordnung noch die politischen Ausgangsbedingungen für ein Projekt universeller Emanzipation. Doch derzeit kann der Wunsch, der liberale Westen möge so lange als Existenzraum kritischen Denkens und pluralistischer Lebensweisen überdauern, bis eine noch hoffnungsfrohere Aussicht auf Freiheit und Gleichheit zu begründen wäre, nicht an die Linke delegiert werden. Sie hält lieber an altgedienten Feindbildern fest und zu befürchten ist, dass sie den Westen nicht einmal vermissen wird, wenn es ihn nicht mehr gibt.


1 Hermann L. Gremliza, Sie wollen Krieg, in: konkret, 5/2018, S. 8–9.

2 Vgl. dazu Dan Diner, Sind wir wieder im 19. Jahrhundert?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.2016, S. 11.

3 Vgl. zum Begriff ›Freiheitsnarrativ‹ den Historiker Michael Kimmage, https://www.deutschlandfunk.de/amerika-und-der-westen-eine-idee-broeckelt.1184.de.html?dram:article_id=413836.

4 John J. Mearsheimer, Back to the Future, in: International Security, Jg. 15, Nr. 1/1990, S. 5–56.

5 Zitiert nach Johannes Leithäuser, Lange Tage der Irritationen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.2017, S. 2.

6 Jakob Augstein, »Die Unterwerfung«, in: Spiegel-Online, http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-angela-merkel-unterwirft-sich-dem-imperialismus-der-usa-a-1208819.html.

7 Interview mit Oskar Lafontaine, »Ich widerspreche der Lüge, die Kriege der USA dienten der Demokratie«, in: Spiegel-Online, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/oskar-lafontaine-von-einer-linken-volkspartei-sind-wir-weit-entfernt-a-1208089.html.

8 Felix, Simon, »Trump hat immer noch nicht verstanden, worum es bei der Nato geht«, in: Welt Online, https://www.welt.de/politik/article179262698/Maybrit-Illner-Trump-hat-immer-noch-nicht-verstanden-worum-es-bei-der-Nato-geht.html.

9 Gabriel glaubt, Trump ziele auf einen »Regimewechsel« in Deutschland ab, in: Welt Online, https://www.welt.de/politik/deutschland/article179262578/Nach-dem-Nato-Gipfel-Gabriel-glaubt-Trump-ziele-auf-einen-Regimewechsel-in-Deutschland-ab.html.

10 Ebd.

11 Fabian Hartmann, »Maybrit Illner«: Bundesrepublik kein souveränes Land? Oskar Lafontaine redet sich um Kopf und Kragen, in: Der Westen Online, https://www.derwesten.de/kultur/fernsehen/oskar-lafontaine-redet-sich-bei-illner-um-kopf-und-kragen-id214833295.html.

12 So in dem Aufruf »Ein trans­at­lan­ti­sches Mani­fest in Zeiten von Donald Trump«, vgl. https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2017/november-dezember/trotz-alledem-amerika.

13 Florian Güßgen, Amerika zerstört den Westen, Stern Online, https://www.stern.de/politik/deutschland/kommentar-amerika-zerstoert-den-westen-3499996.html.

14 Vgl. Renate Köcher, Die große Entfremdung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.5.2018, S. 8.

15 Jörg Kronauer, Rette sich wer kann, in: konkret, 6/2018, S. 16–19.

16 https://neu-alexander.de/2018/07/voellig-absurd-interview-zur-europaeischen-aufruestungsorgie.

17 Junge Welt, 6.5.2015, S. 3.

18 Keith Kahn-Harris, To ask Corbyn to support Israel is an impossible demand, in: The Guardian Online, https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jun/01/corbyn-israel-arkush-labour-antisemitism-fearful-jewish-community.

19 https://interventionistische-linke.org/beitrag/alles-gute-zum-tag-der-katalanischen-einheit.

20 Vgl. u.a. Thomas Ebermann/Rainer Trampert, Die Offenbarung der Propheten, Hamburg 1995, bes. S. 245ff.

21 Gazi Çağlar, Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen, Münster 2002, S. 157f.

22 Kamel Daoud, Das sexuelle Elend der arabischen Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.2.2016, S. 9.

23 Hannes Stein, Frau des Jahres? Was für ein Irrsinn!, in: Welt Online, https://www.welt.de/vermischtes/article170639878/Frau-des-Jahres-Was-fuer-ein-Irrsinn.html.

24 Zu den folgenden Absätzen vgl. Jan Gerber, Das letzte Gefecht, Berlin 2015, S. 53–84.

25 Ebd., S. 71f.

26 Vgl. Dan Diner, Feindbild Amerika, Berlin 2002, S. 140.

27 Angelika Beer u.a., Gegen die Kolonialisierung der osteuropäischen Staaten durch BRD, EG und NATO, in: Kongressvorbereitungsgruppe (Hg.): Die Radikale Linke, Hamburg 1990, S. 31–41.

28 https://umsganze.org/historie/2009-snks/aufruf-es-gibt-kein-ende-der-geschichte/.

29 Rainer Zitelmann u.a. (Hg.), Westbindung, Frankfurt/M. 1993; Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation, Frankfurt/M. 1994.

30 Vgl. Matthias Küntzel, Der Weg in den Krieg, Berlin 2000.

31 Vgl. zu zur Analyse der Verwestlichung Deutschlands: Andrei S. Markovits/Simon Reich, Das deutsche Dilemma, Berlin 1998.

32 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Eine »deutsche Lösung« für den Balkan, in: Jürgen Elsässer/Andrei S. Markovits (Hg.), Die Fratze der eigenen Geschichte, Berlin 1999, S. 162–170.

33 Jürgen Elsässer/Andrei S. Markovits, Ein deutsches Coming-out?, in: Elsässer/Markovits, Die Fratze der eigenen Geschichte, S. 186–202.

Der Text erschien redaktionell bearbeitet in der Jungle World Nr. 31/2018.