1000 Jahre Bürgerlichkeit. Zur Geschichtspolitik der Stadt Leipzig zwischen liberalem Anspruch und Standortlogik

In diesem Jahr begeht Leipzig das 1000-jährige Stadtjubiläum. In der offiziellen Ankündigung der Feierlichkeiten wird die lokale Geschichte als ungebrochene Erfolgslinie dargestellt: »1000 Jahre Leipzig sind 1000 Jahre Vielfalt. 1000 Jahre Leipzig, das sind 1000 Jahre herausragende wirtschaftliche, kulturelle und bürgerliche Tradition. Als ein wesentliches geistiges Zentrum der sich formenden Nation mit dem selbstbewussten und wohlhabenden Bürgertum einer Handelsstadt herrschte in Leipzig über Jahrhunderte ein Klima, in dem sich die schönen Künste, allen voran die Musik, in unvergleichlicher Weise entfalten konnten. Ebenso standen Wissenschaft und Ökonomie in höchster Blüte.«

Schnell fällt auf, dass hier Geschichte glatt gebügelt wird. Widersprüchliche Entwicklungen sind aus dem Jubiläumsnarrativ herausgedampft. Gemeinsamkeit wird über historische Epochen hinweg behauptet, von der Unterschiedlichkeit zeitspezifischer Lebenswelten hingegen abgesehen. Geradezu kontrafaktisch wird die Stadtgeschichte aus den reaktionären Traditionen der deutschen Nationalgeschichte, aus Kaiserreich und Nationalsozialismus herausgelöst. Ebenso unbefleckt erscheint die Enklave der Bürgerlichkeit von sozialer Ungleichheit und den revolutionären Versuchen, mit Ausbeutung und Unterdrückung auch das Besitzbürgertum abzuschaffen.

 Patina und Partizipation

Die homogenisierende Erzählung folgt der Geschichtsphilosophie des Stadtmarketings. Leipzig präsentiert sich als Standort. Der für die Organisation der Feierlichkeiten Verantwortliche ist der Beigeordnete für Finanzen. Das unter seiner Schirmherrschaft erstellte Festprogramm ist in der Werbesprache der Kreativwirtschaft verfasst, um deren Ansiedlung sich die Stadt seit Jahren bemüht: »Als Stadt des bürgerlichen Engagements und der friedlichen Revolution wird es ein Fest der Leipziger für die Leipziger und ihre Gäste. Man wird die Kraft und Kreativität in einer jung gebliebenen, dynamischen Stadt verspüren.« Die Jubiläumsformel mixt Patina mit Partizipation und zielt so auf Identifikation als weichen Standortfaktor oder gleich auf konsumwillige Touristen und steigende Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Das ökonomische Interesse verhilft dabei selbst den alltäglichen Ereignissen des Wirtschaftslebens zu historischer Bedeutung. In der Aufzählung besonderer Jubiläen, die im Rahmen der 1000-jährigen Stadtgeschichte zu feiern sind, werden »herausragende Ereignisse der Stadtgeschichte« wie die vor 850 Jahren erfolgte Grundsteinlegung der Nikolaikirche, die ebenso lange zurückliegende Verleihung der Markt- und Stadtrechte, das 600-jährige Jubiläum der Medizinischen Fakultät, die 100 Jahre zurückliegende Fertigstellung des Hauptbahnhofs und zehn Jahre BMW benannt. Und dies sei nur ein »erster knapper Ausschnitt der vielfältigen Inhalte« des Festprogramms. Das enthält neben Theater mit Bürgerbeteiligung den jährlich wiederkehrenden Eventreigen von Leipziger Markttagen über das Radrennen neuseen classics bis zu Volksbank-Frauenlauf und Kleinmesse, also jene organisierte Langeweile, die jedes Jahr aufs Neue Massen belanglos zusammenströmen lässt. Für den gehobenen Geschmack werden Wagner-Festspiele geboten, dem städtischen Anspruch auf Vielfalt und Weltoffenheit entsprechen Veranstaltungen zur Interkulturellen und zur Jüdischen Woche, Leipziger Frauenfestival und Integrationsmesse.

Inhaltslosigkeit als Sinnstiftung

Die mit dem Motto der 1000-Jahr-Feier ausgedrückte liberale Erzählung wird im Rahmen des Veranstaltungsprogramms auf den Nenner eines Konsumangebots gebracht. Dabei folgt die Stadt einer Logik, die sich bereits bei vergangenen historischen Jubiläen, etwa den Feierlichkeiten zur 200 Jahre zurückliegenden Völkerschlacht oder dem letzten runden Jahrestag der Friedlichen Revolution beobachten ließ. Im Gedenkjahr 2013 wurde unter dem Motto »Leipzig 1813 – 1913 – 2013. Eine europäische Geschichte« das Doppeljubiläum von Völkerschlacht und der Einweihung des gleichnamigen Denkmals gefeiert. Dabei bezog sich das Festprogramm im Kern nicht positiv auf den antinapoleonischen Geist der in den Befreiungskriegen siegreich hervorgegangenen Preußen und Österreicher und auch nicht auf die sich im Zuge des Wiener Kongresses 1815 Bahn brechende Reaktion und ihre negativen Folgen für politische Freiheiten und Judenemanzipation. Selbst die Übergabe des sanierten Völkerschlachtdenkmals, in seiner Entstehungsgeschichte ein Monument des völkischen Nationalismus, der sich gegen die Werte der Französischen Republik konstituierte, stand nicht im Zeichen einer rechten Restauration. Vielmehr sollte die Präsentation der Gedenktage durch ihre Weltoffenheit die »Perspektive auf Versöhnung der Menschen in Europa« lenken, wovon sich insbesondere die »ausländischen Gäste« der Stadt begeistert gezeigt hätten. Die städtische Geschichtspolitik folgte den Leitlinien der Berliner Republik, deren historisches Selbstverständnis von Vergangenheitsbewältigung und dem Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gekennzeichnet ist. Doch ist zu bezweifeln, dass die konkrete Erinnerungspraxis in Leipzig dem liberalen Anspruch der Stadt dienlich war. Im Mittelpunkt stand das Spektakel historischen Reenactments, bei dem Zehntausende entweder ihrem atavistischen Verlangen oder der Angst, Nachbar und Arbeitskollegin könnten am Montag mehr zu erzählen haben, nachgaben. Damit wurde jegliche historische Sinnstiftung ad absurdum geführt. Weshalb auch das Engagement der Antifa wenig Durchblick bewies, als sie im Platzpatronenpulverdampf des vernebelten bürgerlichen Selbstverständnisses unter den Beteiligten der »historischen Gefechtsdarstellung« nach Anzeichen faschistischer Unterwanderung suchte.

Auch beim letztjährigen Lichtfest aus Anlass von 25 Jahren Friedlicher Revolution verschwand die Erinnerung an die Bewusstwerdung politischer Souveränität gegen den Staat hinter ihrer Inszenierung. Die Organisatoren warben im Vorfeld, dass es nun wieder einmal möglich sei, »mit Zehntausenden Besuchern den kompletten Innenstadtring einzunehmen«, auf einer Länge von »3,6 Kilometern« Installationen »international agierender Künstler« zu besichtigen und »mit rund 25.000 Kerzen auf dem Augustusplatz den leuchtenden Schriftzug ‚Leipzig 89’ zu illuminieren«. Das Eingedenken in die damaligen Widersprüche und die Frage, was Bürgerbewusstsein und politische Souveränität heute bedeuten müssten, ging dieser Gigantomanie von vornherein ab. Deswegen bestand das Hauptproblem auch nicht darin, dass die offizielle Stadthistorie der völkischen Regression, wie sie im Wandel des durchaus emanzipatorischen Slogans »Wir sind das Volk« zur Parole »Wir sind ein Volk« zum Ausdruck kam, de facto keine Beachtung schenkte, sondern dass auch diesmal Geschichte zum inhaltslosen Spektakel verkam.

Aufruhr gegen Bürgerlichkeit

Kommt eine Stadt auf die Idee, ihrer tausendjährigen Geschichte etwas abzugewinnen, muss sie eine schier unübersehbare Ereignisdichte, Täter und Opfer, Unterdrückte und Unterdrücker, Widerstand und Repression, Verbrechen, Leid und Katastrophen aussortieren, beschönigen oder zumindest vernachlässigen. Im letzteren Sinne ließe sich etwa der Stadt vorhalten, dass sie den 200-jährigen Geburtstag Richard Wagners 2013 pompös begangen hat und dies trotz seines offensichtlichen Antisemitismus und seiner begeisterten Rezeption im Nationalsozialismus, die von den Organisatoren des Wagner-Jahres zu einer Fußnote verkleinert wurden.

Linke Interventionen versuchen hingegen für gewöhnlich die Momente des Kontingenten, Widerständigen, aber auch Gewaltförmigen sichtbar zu machen, die der vorherrschenden Geschichtserzählung zum Opfer gefallen sind. Der bürgerlichen Geschichtsschreibung werden ihre Auslassungen vorgeworfen, auf denen die Mythologisierung der bestehenden Zustände, ihre Darstellung als unabweisbare Konsequenz einer »natürlichen« und linear fortschrittlichen Entwicklung beruht.

Eine aktueller Aufruf verschiedener linker Gruppen aus Leipzig fordert deshalb zu einer »Parade der Unsichtbaren« gegen die 1000-Jahre-Feierlichkeiten der Stadt auf, weil diese nicht die Wahrnehmung der »Prekären, Verdrängten, Ausgeschlossenen, Ungewollten« repräsentiere und stattdessen dem Ziel diene, den Lebensraum der Stadt als Zone des Profits zu etablieren. Der idealisierenden Selbstsicht einer bürgerlichen und vielfältigen Stadt wird die Realität von polizeilichen Komplexkontrollen, Videoüberwachung, die fehlende Unterstützung von alternativen Wohnprojekten und Wagenplätzen, die Unterbringung von Asylbewerbern in Massenunterkünften, mithin die ökonomische Logik der Stadtpolitik entgegengehalten. Eine Sichtweise, die hinsichtlich der Beobachtung des Verdrängten einiges für sich hat. Doch handelt es sich dabei ebenfalls um eine idealisierende Gegenerzählung. So wird der Konstruktion einer harmonischen bürgerlichen Wir-Identität das ebenso zurechtgestutzte Protestkollektiv aus »Ausgesperrten, Weggesperrten, Ungewollten, Anormalen, Abgeschafften« entgegengesetzt, die während der Feierlichkeiten unter der Parole »Wir sind die Stadt« ihren Anspruch auf Teilhabe zum Ausdruck bringen sollen. Der romantische Wunsch nach einem revoltierenden Subjekt sieht nicht nur von den realen Interessen eines Großteils der Angesprochenen ab, die sich als Armutsflüchtlinge, Erwerbslose, Kreative und Arme nichts mehr wünschen als Einkommenszuwachs, Konsumfähigkeit und Erfolg in der Konkurrenz der Individuen. Er verschleiert zudem die eigene bildungsbürgerliche Herkunft hinter einer pseudoradikalen Abgrenzung von einer »besserverdienenden Mittelschicht«, die den familiären Hintergrund und die Zukunft linker Bildungsgewinnler ziemlich genau beschreiben dürfte.

Irritierend ist auch die Einforderung einer Repräsentation der Unterprivilegierten im Namen einer Stadt-Identität. Zwar wird hier die Stadt als sozialer Lebensraum und nicht als heimatliches Territorium beansprucht, trotzdem kommt der Lokalbezug dem Identitätsangebot Leipzigs entgegen. Nicht nur, weil sich sowohl die Stadt als auch die linken Gruppen auf »unsere« Stadt beziehen, sondern weil die Kommune sich selbst durchaus aufgeschlossen gegenüber den Betrachtungsweisen von »Ausgeschlossenen« zeigt. So widmete sie ihren letztjährigen »Tag der Stadtgeschichte« dem Thema »Unruhiges Leipzig«. Das Kooperationsprojekt von Stadtverwaltung, Universität und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erinnerte im Rahmen einer Veranstaltungsreihe (und in Bälde in Form eines Sammelbands) an unbotmäßiges Verhalten gegen die Obrigkeit vom »Ersten Leipziger Bürgeraufstand 1215« über die »Bürgerbewegung 1989« bis hin zu den Protesten einer »urbanen Multitude« in der jüngsten Vergangenheit. Nicht linke außerparlamentarische Kräfte oder die Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern die Stadt selbst erzählte eine Gegengeschichte und wandte sich mit diesem Anliegen beispielsweise auch an Antifa-Linke der 1990er, um deren Sichtweise auf die wilden Nachwendejahre sie bat. Die Vermutung liegt nahe, dass die Besonderheit der jeweiligen Ereignisse durch das projekthafte Erinnern im Rahmen einer 1000-jährigen Stadtgeschichte einer neuen Sinnstiftung dient. Das unbotmäßige Verhalten wird posthum zum »bürgerschaftlichen Engagement«. Die Repräsentation subversiver Geschehnisse wird auf diese Weise im Sinne des Bestehenden in Dienst genommen.

Oder: Bürgerlichkeit gegen die organisierte Amnesie?

Es ist aber auch eine andere, freundlichere, Interpretation möglich: Wie das Motto des Jubiläumsjahres, das Bürgerlichkeit und Vielfalt hervorhebt, unterstreicht auch die ab- und nebenseitig vollzogene Widerstandsgeschichte einen liberalen Anspruch, der seine Funktionalität zwar in den Grenzen der herrschenden Wirtschafts- und Eigentumsordnung entwickelt, gleichwohl politisch nicht folgenlos bleibt. Gegenüber der Landeshauptstadt Dresden gilt Leipzig als »links«. Naziaufmärsche werden mit Unterstützung der Stadt blockiert, gegen Legida demonstrierten 30.000 Bürger, so viele wie sonst nirgendwo. Die rechte Bewegung ist der offiziellen Stadtpolitik ein Ärgernis, die Abneigung des Leipziger Polizeipräsidenten gegen Nazis kaum an Authentizität zu überbieten. Linke Kulturprojekte werden gefördert, zum Teil seit Jahrzehnten. Wohnprojekte und Wagenplätze bekommen ideelle, teilweise auch materielle Unterstützung. Entscheidende Akteure in der Stadt wünschen sich ein Förderprogramm für alternative Stadtsanierung, diskutiert wird zudem, städtische Immobilen nicht mehr an meistbietende Interessenten zu verkaufen. Vor drei Jahren verabschiedete der Stadtrat einen Beschluss, Geflüchtete in Zukunft dezentral unterzubringen. Zwar wurde dieser Beschluss auch angesichts steigender Asylbewerberzahlen nur eingeschränkt umgesetzt, doch aus den Protokollen der Stadtverordnetenversammlungen zum Thema spricht keinesfalls nur finanzielle Standortlogik, sondern auch Humanität und Problembewusstsein für die Lebenslage von Geflüchteten. Im Vergleich der Ostmetropolen ist die Stadt tatsächlich weltoffener und damit lebenswerter als andere. Selbst noch die Ansiedlung von BMW und Porsche ist so besehen Ausdruck eines städtischen Klimas, das auf die Exportabhängigkeit der Industrie Rücksicht nimmt, also nicht »rechts« sein darf. Dazu verbessert sie durch hochqualifizierte und gut bezahlte Angestellte die materiellen Voraussetzungen für eine bürgerliche Selbstidentifikation. So besehen sind die mehrheitlich der Mittelschicht angehörenden Fans des Fußballclubs Rasenballsport Leipzig die Bedingung für die städtische Förderung linker Kulturprojekte, für den in Freien Schulen und auf Gymnasien heranwachsenden mittelständischen Nachwuchs des Roten Stern, für die Chance auf Toleranz für Wagenplätze und Lesben und Schwule, die von echten Proletariern und tatsächlich Deklassierten nicht zu haben ist.

Was kritisieren?

Was bedeutet dies für die Perspektive linker Kritik? Müsste es dieser dann überhaupt noch darum gehen, der städtischen Geschichtspolitik ihre Beschönigung restaurativ-konservativer Tendenzen, ihre mangelnde Erinnerung an »rechte« Verbrechen, ihr Vergessen der Kämpfe der Arbeiterbewegung und linker Strömungen innerhalb der 1989er oder die Nichtrepräsentation der Unterprivilegierten vorzuwerfen? Oder wäre es vielmehr notwendig, den liberalen Anspruch der Stadt gegen die Praxis inhaltsleerer Eventisierung zu verteidigen, ja seinen politischen Kern überhaupt erst einmal aus den Schichten von Spektakel und Happening herauszuschälen? Ginge es in der jetzigen Situation also nicht eigentlich darum, bürgerliche Liberalität einzufordern, diese am Grad ihrer Kernbestandteile politische Selbstbestimmung und soziale Verantwortung zu messen, und damit auch die Voraussetzungen linker Politik zu bewahren?

Der Rote Salon im Conne Island möchte diese Fragen in einem moderierten Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Brieler diskutieren, der in besonderer Weise mit der Thematik vertraut ist. Als Leiter des Referats Wissenspolitik der Stadt Leipzig hat er nicht nur Einblick in den Entstehungsprozess der Leitlinien städtischer Politik, sondern beeinflusst diese auch ein Stück weit. Seine Vita und seine stadtpolitischen Aktivitäten stehen dabei für den Ansatz, kritische Initiativen, Stimmen und Positionen sichtbar zu machen. So war er nicht nur Initiator des Tags der Stadtgeschichte über das »Unruhige Leipzig«, sondern steht als Organisator der Leipziger Sonntagsgespräche auch für die Vision »einer kritischen Öffentlichkeit, in der unkonventionelle, spannende, provokative Meinungen präsentiert« werden. Im Rahmen der Reihe wurden Intellektuelle wie Wolfgang Kraushaar, Joseph Vogl, Harald Welzer, Karl Heinz Roth, Christine Resch, Heiner Flassbeck und Tatjana Freytag nach Leipzig eingeladen; thematische Schwerpunkte waren die kapitalistische Krise, der Klimawandel, 1968, die Verwerfungen des Finanzkapitalismus oder die Aktualität der Kritischen Theorie Herbert Marcuses. Zudem ist Brieler Honorarprofessor am Institut für Philosophie der Universität Leipzig und hat sich unter anderem als Autor von Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker wissenschaftlich mit einem gesellschaftskritischen Zugang zur Geschichtspolitik auseinandergesetzt.

Mai 2015