In der Pandemie wittern einige Linksradikale das Ende des westlichen Kapitalismus und sozialistische Ansätze zu seiner Überwindung. Doch die Coronakrise festigt ihn eher, als dass sie ihn schwächt, auch wenn die Zukunft wohl wieder etwas mehr Regulation und etwas weniger Neoliberalismus bereithält. Von Ulrich Schuster, Roter Salon Leipzig
Linksradikale Analysen sparen nicht mit begrifflichen Superlativen, wenn es gilt, die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Man sei Zeuge einer »historischen Zeitenwende« und erlebe einen »seit 1945 noch nie erlebten Kontrollverlust«, heißt es etwa in einem vielbeachteten Text von Verena Kreilinger und Christian Zeller, Mitgliedern der Gruppe »Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative«. Die Pandemie offenbare den »moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus« und ein »schwerwiegendes Versagen der europäischen Regierungen«. Zudem biete sie einen »Vorgeschmack auf mögliche autoritäre Versuchungen«.
Zweifelsohne ist die Situation außergewöhnlich. Ob sie mit den oben zitierten Begriffen zutreffend beschrieben ist, darf aber bezweifelt werden. Belege für einen wirklichen Strukturwandel lassen sich erst in der Rückschau finden. Auch die Diagnose eines »nie erlebten Kontrollverlusts« ist angesichts von weitgehend eingehaltenen Ausgangsbeschränkungen zumindest erläuterungsbedürftig. Klar ist hingegen, warum Linke die gegenwärtige Lage mit möglichst drastischen Begriffen beschreiben. Wenn der regelmäßig totgesagte und stets quicklebendige Kapitalismus am Boden liegt, müssten die Chancen für seine Überwindung steigen und mit ihr die Relevanz des eigenen Vereins. Ganz in diesem Sinne konstatierte das linksradikale Bündnis »Ums Ganze« mit kaum verhohlener Freude zu Beginn der Krise: »Was viele vor zwei Wochen noch für unmöglich hielten, ist Realität geworden: […] die kapitalistische Maschinerie stockt.« Gegen die nun drohende »autoritäre Seuchenverwaltung« helfe nur der Aufbau des Kommunismus. Diese Gegenmacht sei aber kein »fernes Licht am Ende des Tunnels«, sondern könne hier und jetzt als »praktische Bewegung« gegen den »kapitalistischen Normalbetrieb« verwirklicht werden.
Natürlich bietet die Realität selbst Nahrung für überbordende Phantasien. Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote sind harte Eingriffe in bürgerliche Grundrechte. Zeitweise standen in Deutschland und vielen Ländern in und außerhalb Europas große Teile der Produktion weitgehend still. Mit Blick auf Wirtschaft und Staat diagnostiziert die Gruppe »Ums Ganze« deshalb eine kapitalistische Produktionskrise und eine damit einhergehende Krise der gesellschaftlichen Reproduktion. Das Virus sei dafür nur ein Auslöser gewesen. Ohnehin sei die kapitalistische Ökonomie mit ihrer aufgeblähten Finanzspekulation, der Überproduktion von Waren und durch die Fragilität globaler Wertschöpfungsketten krisenanfällig. Jetzt merkten die Menschen zudem, wie schlecht das marktwirtschaftlich orientierte Gesundheitssystem ausgestattet sei und dass Berufe im Care-Bereich systemrelevant seien. Gelänge es, die Probleme in der Reproduktionssphäre, beispielsweise im Gesundheitswesen oder in der Hausarbeit, zu politisieren, könne aus der medizinischen und wirtschaftlichen »Coronakrise« sogar noch »eine politische Systemkrise« werden.
Noch dramatischer sind die Erwartungen Kreilingers und Zellers: Das Zusammenwirken von politischem »Versagen«, »Wirtschaftskrise«, »Gesundheitskrise« und globaler Klimakrise werde zu »überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen«. Klimakrise und Coronakrise verdeutlichten gleichermaßen die Unfähigkeit der Politik, die mit ihnen verbundenen Gefahren abzuwehren. Denn das sei aufgrund kapitalistischer Grundprinzipien wie Akkumulationslogik, Profitmaximierung und Konkurrenz nicht möglich, weshalb jetzt die Zeit für deren Überwindung gekommen sei. Unter Verweis auf Rosa Luxemburgs während des Ersten Weltkriegs formulierter Warnung »Sozialismus oder Barbarei« konstruieren Kreilinger und Zeller eine epochale Entscheidungssituation. Angesichts der »unermesslichen Gesundheitskrise« beginne jetzt der Kampf um den ökosozialistischen Umbruch.
Hat man sich rhetorisch erst einmal in dieses Entweder-Oder hineinmanövriert, muss man die eigentlich naheliegende Möglichkeit gar nicht mehr diskutieren, dass es auch während und nach der Pandemie mit dem Kapitalismus im Großen und Ganzen so weitergehen werde wie bisher. Dabei spricht vieles dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft auf der Grundlage bereits vorhandener Handlungsmuster reagieren. Weder der Weltuntergang noch die Revolution werden stattfinden, wie es die alarmistische Prognose vorsieht. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Krise durch sozialökologische Regulationsmaßnahmen gemanagt wird. In diese Richtung weist etwa die Diskussion über eine Kopplung umweltpolitischer Bedingungen an eine Abwrackprämie zugunsten der deutschen Autoindustrie. Ein weiteres Beispiel: Olaf Bandt, der Vorsitzende des »Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland« (BUND), und Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Sozialverbandes »Der Paritätische«, forderten unlängst in einem Beitrag für den als »neoliberal« bekannten Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den Non-Profit-Bereich im Gesundheitssektor, bei sozialen Dienstleistungen und in der Energiewirtschaft auszuweiten. Das Paradigma ungebremster Deregulierung hat seine Überzeugungskraft nahezu gänzlich verloren, staatliche Regulationspolitik gewinnt seit der Finanzkrise ab 2008 und nun infolge der Pandemie an Zustimmung.
Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte überwundener Krisen. Statt seines im 19.Jahrhundert vorausgesagten Niedergangs durch um sich greifende Verelendung und eine einflussreiche Sozialdemokratie kam der Sozialstaat. Danach überstand das System der Mehrwertabschöpfung in zwei Weltkriege trotz der Millionen von Toten und gerade, weil sich nach der ungeheuren Zerstörung alles so profitabel wiederaufbauen ließ. Schließlich überwand das Kapital die Akkumulationskrisen der siebziger Jahre durch technische Innovationen, die Ausweitung des Massenkonsums, die Auslagerung der Produktion und die Schrumpfung staatlicher Sozialfürsorge. Nebenbei triumphierte der Kapitalismus über den Staatssozialismus, kooperierte aber ansonsten mit unterschiedlichen politischen Systemen.
In den westlichen Staaten hatten sich liberal-demokratische Herrschaftsformen mit beachtlichen Freiheitsgraden und Möglichkeiten der Gesellschaftskritik entwickelt, die eher dazu beigetragen haben, den Kapitalismus zu reformieren, als ihn zu beschädigen. So entschieden sich die Menschen in der Regel für die Marktwirtschaft, selbst wenn diese nur noch Reste eines Sozialstaates zuließ. Das war selbst während der Finanzkrise der Fall, als in Ländern wie Griechenland Massenarbeitslosigkeit, Armut und Staatsversagen herrschten und theoretisch ideale Bedingungen für massenhaften Aufruhr bestanden.
Angesichts dieser Vitalität und Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus ist eine eher zurückhaltende Bewertung in Bezug auf sein Überleben angebracht. Vieles deutet darauf hin, dass der Kapitalismus auch diese Krise überstehen wird. Zurzeit wird eine unglaubliche Geldmenge für die Rettung des ökonomischen Systems und für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens mobilisiert. Deutschland als Gewinnerstaat in der globalen Konkurrenz wendet über eine Billion Euro auf. Ob sich mit der »Bazooka« (Bundesfinanzminister Olaf Scholz) die Wirtschaftskrise wirklich bewältigen lässt oder sie nur verschoben, abgemildert und auf ärmere Staaten abgewälzt wird, ist nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass der Staat Handlungsfähigkeit unter Beweis stellt. Dem Bürger wird signalisiert: Auch wenn es jetzt abwärts geht, ganz so schlimm wird es schon nicht kommen! Deswegen schnallt dieser den Gürtel eher nochmal enger, als sich auf Experimente einzulassen. Selbst der Salonkommunist weiß, dass die Vorsicht des Bürgers nicht unbegründet ist; wer könnte schon ruhigen Gewissens versichern, dass der Weg ins Paradies auf Erden nicht erneut durch Konsumwüsten und Arbeitslager führt. Der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung reicht das Maß an sozialer Empathie völlig aus, mit dem die liberal-demokratischen Staaten auf die Krise reagieren.
Und zweifelsohne, es hätte schlimmer kommen können. Besonders betroffene Altersgruppen, im Sinne des Kapitals eigentlich unproduktiv, stehen derzeit noch im Zentrum der medizinischen Sorge. Wer jetzt, Anfang Mai, beobachtet, mit welcher Vehemenz die Wirtschaftsverbände die Rückkehr zur Normalität fordern, bekommt einen Eindruck davon, wie sehr die Maßnahmen der Bundesregierung im Widerspruch zu spezifischen Kapitalinteressen standen. Dass Fabrikschließungen nur wegen unterbrochener Lieferketten stattfanden, wie Linke gerne behaupten, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn nicht nur die Unterbrechung des Warennachschubs durch die wiedereingeführten Grenzkontrollen wurde bewusst einkalkuliert. Wie das Handelsblatt am 17. März berichtete, beriefen sich in den großen Autokonzernen Betriebsräte immer öfter auf die staatlichen Hygienevorschriften, forderten deren Einhaltung und damit den Stopp der Fließbänder. Wenig später waren die großen Autofabriken zu. Hinzu kam, dass staatliche Verbote vor allem den Dienstleistungssektor, etwa Tourismus, Kultur, Gastronomie und damit den größeren Teil der nationalen Wertschöpfung trafen.
Für linke Gruppen hingegen belegte der Weiterbetrieb von Versandhändlern und Großraumbüros, wie kalt die Maschinerie des Neoliberalismus ist. Die Gruppe »Ums Ganze« teilte mit, der Kapitalismus sei irrational und gehe für »seine Erhaltung über Leichen«. Sie unterschlug, dass auch das Gegenteil stimmt, der kapitalistische Staat also zu humanitären Erwägungen in der Lage ist. Ob die exekutive Krisenverwaltung mit einzelnen Kapitalinteressen übereinstimmte oder sich gegen diese richtete – im Allgemeinen zielte staatliche Politik auf die Reproduktion des Gesamtsystems. Die meisten Menschen finden das bisher ganz vernünftig. In der Krise steigt die Zustimmung zur Regierungskoalition. Warum sollte man sich als von Steuergeldern bezuschusster Kurzarbeiter oder als Lohnabhängige auch beschweren, wenn der Staat sich bemüht, das Wirtschaftssystem zu erhalten? Es ist die Hand, die einen füttert. Der kapitalistische Staat verliert damit nicht an moralischer Glaubwürdigkeit, wie Linke zu hoffen scheinen.
Als Vertreter von Gefühlskälte fielen bisher denn auch weniger Konzernchefs auf, die das Ende des wirtschaftlichenshutdown forderten, als vielmehr der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer oder Kulturschaffende wie die Rapper von K.I.Z. Ansonsten zollt das »System« dem Leben und der Würde der Alten eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit. Mitgefühl gibt es für Kinder und Frauen, die von häuslicher Gewalt bedroht sind, für sozial benachteiligte Schüler, die durch Schulschließungen den Anschluss verlieren, für schlecht bezahlte und stark beanspruchte Pflegekräfte im Gesundheitssystem. Ein Großteil dieser Empathie bleibt folgenlos, bedenkt man etwa die lächerlichen Bonuszahlungen für Angestellte im Gesundheitswesen, um die Regierung, Bundesländern und Sozialverbänden immer noch ringen. Trotzdem ist es purer Voluntarismus, in der jetzigen Situation systemumstürzlerische Hoffnungen mit »Care-Revolution«, »Frauenstreik« und »Arbeitskämpfen im Gesundheitswesen« zu verbinden. Warum sollten sich die sozialen Interessen derjenigen, die gerade jetzt materielle Gratifikationen und symbolische Anerkennung des sich kümmernden Staates erfahren, gegen das Gesamtsystem wenden?
Entgegen dem linken Verdikt vom Versagen der Politik erweisen sich die Regierungen als zupackende Risikomanager. Dabei agiert die Politik hierzulande vergleichsweise nüchtern. Hin und wieder gibt es eine Ansprache des Regierungsoberhaupts, ansonsten viele Appelle an die Vernunft, epidemiologische Diskurse und demokratische Abstimmungen. Ausnahmen in Europa und den Vereinigten Staaten, die sich als Vorgeschmack des Autoritarismus deuten ließen, bestätigen die Regel. Zu Recht kritisierte der Sozialwissenschaftler und Aktivist Raul Zelik in einem Beitrag für die Schweizer Woz die Kriegsrhetorik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die einen das Fürchten lehren könne; er unterschlug aber, dass diese zumindest hierzulande eher belächelt als zur Nachahmung empfohlen wurde. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jasper von Altenbockum, kommentierte die Rede in einem ironischen Tweet: »Wer mal Krieg erlebt hat, kann sich noch gut daran erinnern, wie man sich durch Händewaschen davor geschützt hat.« Die Gruppe »Ums Ganze« dagegen malt mit der uralten linken Warnung vor dem Einsatz der Bundeswehr im Innern das Schreckgespenst einer drohenden Militärdiktatur an die Wand. Doch statt Straßensperren und Kontrollpunkten, willkürlichen Verhaftungen und Schikanen durch Militär und Polizei, wie sie einem Bericht von Spiegel Online zufolge in afrikanischen Ländern vorgekommen sind, entpuppt sich der Kriseneinsatz der von Geldnöten geplagten Bundeswehr als harmloser Dienst einiger Hundert Sanitätsreservisten für den Aufbau von Lazaretten.
Nach Meinung einiger Linker lauert der Faschismus auch im Robert-Koch-Institut. Die »Interventionistische Linke Berlin« urteilte in ihrem Aufruf zum »Revolutionären 1. Mai«, »dass die Einschränkungen demokratischer Grundrechte nichts anderes sind als der autoritäre Angriff auf diese Rechte und nichts mit gesundheitlichen Schutzmaßnahmen zu tun haben«. Doch dann muss einigen Mitgliedern aufgefallen sein, dass solche Statements auch bei Pegida und AfD-Anhängern Beifall finden könnten. Der Aufruf wurde zum »Diskussionsbeitrag« herabgestuft, die entsprechende Passage gestrichen, nicht ohne nochmals zu betonen, dass sich die Herrschenden mit ihren autoritären Maßnahmen auch gegen die radikale Linke wenden. Das ist nicht mehr als Wunschdenken, denn »die Herrschenden« haben derzeit andere Sorgen. Eine davon gilt den Einschränkungen der Grundrechte in einem liberal-demokratischen System, in dem individuelle Freiheit und Markt zwei Seiten derselben Medaille sind. Für Verschwörungstheoretiker jeglicher Couleur ist das schwer zu verstehen, weshalb sie weite Bereiche der Wirklichkeit ignorieren, von der eigenen Szene fernhalten oder als systematische Lüge abtun müssen. Etwa, wenn die
Kanzlerin zugibt, dass die Pandemie »eine demokratische Zumutung« ist, die temporären Freiheitseinschränkungen zu den schwersten Entscheidungen ihrer Amtszeit gehören und obendrein noch einige Landesregierungen für deren zu forsche Durchsetzung kritisiert.
Die Debatten demokratischer Selbstkontrolle, zu der eine unübersehbare Menge von Staatsrechtlern, Politikern und Intellektuellen seit Beginn der Pandemie beiträgt, nehmen jene linken Gruppen einfach nicht zur Kenntnis. Stattdessen mutmaßen sie, wie »Ums Ganze«, dass mit Grenzschließungen und Ausgangssperren ein »Traum für alle Fans autoritärer Politik« in Erfüllung gehe. Für einige mag das stimmen, bei vielen indes dürften nackte Angst, Besorgnis, aber nicht selten auch Vernunft und Sachverstand zur Billigung staatlicher Freiheitsbeschränkungen beigetragen haben. Allerdings verging kein einziger Tag, an dem nicht in der medialen Öffentlichkeit die zeitliche Begrenzung der Maßnahmen, ihre epidemiologische Zweckbindung und ihre baldige Rücknahme gefordert wurden. Nach harscher Kritik von Netzaktivisten, Datenschutzbeauftragten und dem Chaos Computer Club musste die Regierung ihre Pläne für eine Tracing-App ändern. Statt zentraler Datenerfassung favorisiert sie nun eine dezentrale Variante, die sensible Informationen auf den Geräten der Nutzer belässt. Dass der im Stil der neunziger Jahre ausgeführte und durch ein Bekennerschreiben publik gemachte Kabelbrandanschlag der »Vulkangruppe shut down the power/ Digitale Zurichtung sabotieren« dazu beigetragen hat, darf getrost bezweifelt werden. Auch einige Landesbehörden, die jegliche Demonstrationen in der Öffentlichkeit verboten hatten, wurden postwendend vom Bundesverfassungsgericht gerüffelt.
Erinnert man sich an die Mangelwirtschaft in der DDR, in der leere Regale alltäglich waren, will man sich die Reaktion einer sozialistischen Planwirtschaft auf eine Gesundheitskrise vergleichbaren Ausmaßes gar nicht vorstellen. Zugegeben, das mit der Abschottung hätte in der DDR besser geklappt. Aber wären in einem menschenwürdigen Kommunismus mit Berücksichtigung individueller Freiheiten und menschlicher Bedürfnisbefriedigung tatsächlich mehr Beatmungsgeräte produziert worden? Es wäre zu hoffen. Man kann auch das Ende des Kapitalismus herbeisehnen. Deshalb tragen linksradikale Statements, in denen die Pandemie als finale Krise beschrieben wird, den Charakter von Beschwörungen. Sie erinnern an religiöse Vorstellungen vom Jüngsten Gericht, denen zufolge sich die Wege von Erlösung und Verdammnis, Himmel und Hölle kreuzen. Biblische Metaphorik schwingt auch in dem geschichtsphilosophischen Revolutionsgleichnis Walter Benjamins mit, das Raul Zelik in der Woz bemühte. In Abwandlung des Marx’schen Topos von den Revolutionen als Lokomotiven der Weltgeschichte sehnte Benjamin angesichts von Faschismus und Hitler-Stalin-Pakt die Revolution als Griff der Menschheit nach der Notbremse herbei. Heute, so Zelik, sitze die Menschheit erneut in einem Zug und rase auf einen Abgrund zu. Millionen in ihrer Existenz bedrohte Menschen, kaputte Gesundheitssysteme, taumelnde Finanzmärkte und eine militärische Supermacht USA, die ihren inneren Zusammenhalt zu verlieren drohe – wovor man sich besonders fürchten müsse –, zeigten an, dass die Menschheit an einem epochalen Scheideweg stehe: »Entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge untereinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung.«
Der Imagination, die drohende Apokalypse könne auch der Beginn von etwas Besserem sein, wohnt spürbar eine Angstlust inne. Dass der Ausnahmezustand politische Chancen böte, diese Hoffnung prickelt Kapitalismuskritikern verschiedener Couleur wie das aus einem Werbespot bekannte Weizenbier im Bauchnabel. Die Coronakrise offenbare, was man selbst immer schon an der kapitalistischen Globalisierung abgelehnt habe. Jetzt, wo das Unheil allen vor Augen stünde, müssten die Rufe zur Umkehr Gehör finden. So kann Niko Paech, ein Prophet einer Postwachstumsökonomie, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk gar nicht oft genug wiederholen, dass die Krise ein nützlicher Lehrmeister sei. Natürlich habe er Mitleid mit den Opfern, aber die demokratische Mehrheit hätte sich dazumal für den Aufbau von globalen Wirtschaftsstrukturen entschieden. Wer nicht hören kann, müsse nun eben fühlen, und der Vorteil sei vielleicht, dass in Zukunft individuelle Lebensentscheidungen anders ausfallen und Wahlen anders ausgehen würden. Paechs Kollegen vom wachstumskritischen Think Tank »Konzeptwerk Neue Ökonomie« gerieren sich weniger strafend, freuen sich aber auch über neue Möglichkeiten: Die Wachstumsgesellschaft sei gescheitert, doch immerhin werde durch die Coronakrise klar, dass Inlandsflüge verzichtbar seien, das Klima geschützt werden und die Politik die Wirtschaft drosseln könne.
Erscheint der Kapitalismus in den linken Analysen einerseits völlig handlungsunfähig und moralisch diskreditiert, überhöht man andererseits ökologische Folgen, staatliche Eingriffe in die Wachstumslogik und zivilgesellschaftliche Selbsthilfe zu Vorboten des Kommunismus. Raul Zelik etwa erkennt in der solidarischen Organisation von Nachbarschaftshilfe, den Elementen bedürfnisorientierter Wirtschaftsplanung und in dem Rückgang der Umweltzerstörung Möglichkeiten, an die das Projekt der Revolution anknüpfen könne. Zeliks Idealismus unterscheidet sich in der Sache kaum von anderen linken Positionen, die in der Krise eine Chance wittern und vor allem auf eine zivilgesellschaftliche Erhebung hoffen. Auch »Ums Ganze« sieht die »vernünftig eingerichtete Gesellschaft« schon am Horizont grüßen. Davor müsse sich die Linke aber erst mal richtig ins Zeugen legen. Nur »durch gutorganisierte Kämpfe« könne sie den Sieg erringen, lasse sich »die aktuelle Solidaritätswelle auch mit der Stadteilarbeit verschiedenster linker Initiativen und Kollektive […] größermachen«.
Ähnlich appellieren Kreilinger und Zeller an die Aktivisten. Die bisher »politisch und organisatorisch« noch »komplett unvorbereiteten emanzipatorischen Bewegungen« müssten sich durch eine »solidarische Praxis der Selbstorganisation« vorbereiten. Das eröffne »die Möglichkeit, Prozesse und starke Bewegungen zur gesellschaftlichen Aneignung wesentlicher Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Infrastruktur zu initiieren«. Das klingt nicht unbedingt nach revolutionärer Ungeduld und auch nicht siegesgewiss. Das mangelnde Pathos ist der uneingestandene Ausdruck der objektiven Unmöglichkeit, den Verlierern der Krise nach Monaten der Ausgangssperre, des Einkommensverlusts oder des beruflichen und häuslichen Stresses zu erklären, dass nun der Sozialismus aufgebaut werden müsse. Auch die Mehrheit der Unterprivilegierten wünscht sich nach der Zeit der Entbehrung die mehr oder weniger gut funktionierende kapitalistische Normalität zurück. Es ist die aus der Geschichte der Neuen Linken bekannte Problematik: Die, die es eigentlich könnten, wollen nicht; die, die es wollen, können es nicht. Wolfgang Pohrt fasste dies mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen im linksradikalen Milieu in dem Satz zusammen: »Bedingung der Sehnsucht nach dem Sozialismus war ihre Unerfüllbarkeit.«
Damit der politische Selbstbetrug nicht auffällt, schicken Linksradikale nicht die auf Kurzarbeit gesetzten Arbeiter, nicht die neuen Arbeitslosen, nicht bankrotte Mittelständler oder das Dienstleistungsprekariat auf die Barrikaden. Stattdessen fordern Kreilinger und Zeller »Menschen aus sozialen Bewegungen« zur »Schaffung von Selbsthilfegruppen« auf. Kinderbetreuung und Nachbarschaftshilfe sollten einen vorbildlichen Beitrag zur Krisenbewältigung liefern, und in Anlehnung an spanische und italienische Dankes- und Unmutsbekundungen sollten die Menschen dazu angestiftet werden, auf Balkonen zu musizieren oder durch Topfschlagen zu lärmen. Es ist eine politische Strategie ganz nach dem Muster viraler Infektion: Ausgehend von der Avantgarde linker Selbsthilfegruppen verbreitet sich revolutionäres Bewusstsein exponentiell. Wenn genügend Menschen vom Virus der Solidarität befallen sind, müssen neben dem Gesundheitssystem gleich noch Produktion, Zirkulation und Reproduktion nach ökologischen und solidarischen Kriterien umgebaut werden.
Was für eine Ehrfurcht einflößende Aufgabe, zumindest für jene, die nicht das Leben von Millionen kranker, alter und behinderter Menschen mit irgendwelchen Experimenten gefährden wollen. Hieß es bei Brecht noch, der Kommunismus sei das Einfache, das schwer zu machen ist, erscheint seine Verwirklichung in den Diskussionspapieren einiger Linker geradezu kinderleicht. Was daran liegen könnte, dass die Baupläne für die »neue« Gesellschaft dem Mantra von Grünen, »Fridays for Future« und anderen Bedenkenträgern ähneln. Tausendfach gehört und von Resonanzzentralen wie Harald Leschs »Kosmos« oder Harald Welzers »Futur zwei« unter die Bildungsbürger gebracht, geht solcherart sozialistische Programmatik leicht über die Lippen. So sollen »wir« »unsere Essgewohnheiten« ändern und »von lokalen Bioproduzent*innen kaufen«, das »umweltschädliche Agrobusiness« zerschlagen und durch eine biologische Landwirtschaft ersetzen. Schließlich schaffen wir die Massentierhaltung ab und steigern die Biodiversität, was zugleich die Gefahr neuer Viren vermindert und die Erderwärmung verringert.
Verlangt wird nichts Utopisches, sondern die forcierte Umsetzung der ohnehin bereits eingeleiteten sozialökologischen Regulation des schon lange nicht mehr nur neoliberalen Kapitalismus. Insofern wirkt auch der emphatische Bezug auf Nachbarschaftshilfe und selbstorganisierte Formen der Solidarität reichlich systemblind. Schon die Vorstellung, eine Handvoll linker Selbsthilfekollektive könne mit gutem Beispiel vorangehen und eine zivilgesellschaftliche Dynamik »von unten« in Gang setzen, ist vermessen. Gegen die Tausenden kirchlichen Selbsthilfegruppen, regionalen Facebook-Initiativen, Vereine und kommunalen Organisationen fällt ihr Einfluss kaum ins Gewicht.
Auch leuchtet nicht ein, warum praktizierte Nächstenliebe sich nicht einfach selbst genügen sollte. Historisch ist kein einziger gesellschaftlicher Umsturz überliefert, der aus Mitgefühl erwachsen ist. Recht eigentlich verweist nämlich Solidarität viel eher auf den bestehenden Sozialstaat und damit das System der Ungleichheitsproduktion. Als Hilfe für die Unterprivilegierten ist sie das Gegenteil von Kommunismus, in dem ja alle gleich frei und gleich wohlhabend wären. Deswegen waren die erfolgreichen Solidaritätskünder bisher auch nicht Linksradikale, sondern Gewerkschafter, Christen und Sozialdemokraten. Nicht zufällig hoffte etwas breitenwirksamer als unbekannte Ökosozialisten der DGB-Chef Reiner Hoffmann am Vorabend des diesjährigen 1. Mai, dass Solidarität »ansteckend« sei, und nahm sie so für die Werbung neuer Mitglieder in Beschlag.
Der beste Solidaritätsversteher in jüngerer Zeit ist Gerhard Schröder. Als die mitteleuropäische Jahrhundertflut 2002 unter anderem in der sächsischen Kleinstadt Grimma alles, was zu nah an der Mulde stand, zu einer weitläufigen Auenlandschaft renaturierte, kam der damalige Bundeskanzler in Gummistiefeln und sah Tausenden Freiwilligen aus dem gesamten Bundesgebiet beim Dämme schaufeln zu. Auch damals schickte der Staat Soldaten der Bundeswehr – zum Sandsäcke stapeln. Später hieß es, weil Schröder sich als zupackender Krisenmanager inmitten einer aktiven Notgemeinschaft dargestellt habe, habe er gegen den Umfragetrend die folgende Bundestagswahl gewinnen können. Niemand wäre jedoch auf die Idee gekommen, aus der überschießenden Solidarität für überschwemmte Ossis irgendeinen Gewinn für die Linke abzuleiten. Im Gegenteil, es gab bei Linksradikalen noch ein Bewusstsein dafür, wie sehr die Inszenierung Schröders an der Spitze einer aktiven Zivilgesellschaft zum Selbstbild einer neoliberalisierten Sozialdemokratie passte. Es war der britische Soziologe Anthony Giddens, der diese Idee propagierte. Ende der neunziger Jahre hatte Giddens in seinem vieldiskutierten Buch »Der dritte Weg« dem Staat empfohlen, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. So sollten die Kräfte der Desintegration ausgeglichen werden, die durch den Rückzug des Sozialstaats im globalen Wettbewerb freigesetzt wurden. Vor allem selbstorganisierte Kleingruppen müssten vom Staat unterstützt werden und diesen selbst als Partner sehen, um integrativ wirken zu können. Das Konzept machte Schule, schwappte von Großbritannien nach Deutschland und fand zu Zeiten der letzten großen sozialdemokratischen Wahlerfolge viel Zuspruch. Als Ergänzung sozialstaatlicher Fürsorge, aber mehr noch als Instanz der Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Werte erhielten Nichtregierungsorganisationen in den folgenden Jahrzehnten finanzielle Förderung und öffentliche Anerkennung.
Die Vorstellung, dass dieser bewährte Komplex aus Staat und Zivilgesellschaft in der Coronakrise zum Systemsprenger werden könne, ist reichlich abstrus. Das Gegenteil ist der Fall. Beeindruckt von Solidarität und Mitmenschlichkeit während der Coronakrise äußerte sich Bundespräsident Walter Steinmeier in einer Videobotschaft: »Wenn wir das miteinander schaffen, dann zerfällt unsere Gesellschaft nicht in dieser Krise, sondern im Gegenteil: Dann wächst sie enger zusammen.« Kein bisschen weniger staatstragend und noch eine Spur prononcierter schreibt die Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement, Sawsan Chebli, im Tagesspiegel, die Zivilgesellschaft sei »systemrelevant«.
Warum also sollte ausgerechnet aus diesem erprobten Funktionszusammenhang von Gesellschaft und Staat eine Kraft entspringen, die sich gegen den kapitalistischen Normalbetrieb wendet? Es bleibt ein Rätsel, dessen Lösung für Linksradikale gar nicht wichtig ist. Nach Globalisierungskritik, Occupy, Hambi und »Fridays for Future« bietet die Pandemie nur den Anlass für die nächste Schwärmerei, die vor allem der Pflege des eigenen Selbstbilds dient.
Dieser Text erschien in der Jungle World Nr. 21/2020