Der angesagte Aufstand

Politisch geht die linksradikale Militanz meistens nach hinten los. Doch es mangelt nicht an Legitimationen des Aktionismus. Die Begründungsversuche zeugen von einem beachtlichen Realitätsverlust und von der eigentlichen Funktion der Gewalt. Von Ulrich Schuster

Ein exemplarischer Fall

In den Abendstunden des 3. Novembers 2019 klingelte es an der Wohnungstür von Cornelia P., Prokuristin einer Leipziger Immobilienfirma. Nachdem die Frau ihre Wohnungstür geöffnet hatte, drängten zwei vermummte Personen sie zurück und schlugen ihr mehrmals mit der Faust ins Gesicht. Bevor die Täter flüchteten, bestellten sie ihrem Opfer »schöne Grüße aus Connewitz«. Connewitz ist ein von der linksalternativen Szene geprägter Stadtteil. Die Firma der Angegriffenen lässt hier auf einer Fläche, die zuvor als Freisitz einer Kneipe und als Öko-Garten gedient hatte, Eigentumswohnungen bauen. Ein Projekt von Hunderten in Leipzig, einer Stadt mit enormem Bevölkerungswachstum. Nach dem Anschlag tauchte auf der Internetplattform Indymedia ein mit »Kiezmiliz« unterzeichnetes Bekennerschreiben auf. Unter Nennung des Namens und der Adresse des Opfers verteidigte es die Tat als legitimen Widerstand gegen Luxuswohnungen. Die Firma der Prokuristin habe sich erdreistet, so die Verfasser, »eine bereits vorher durch StadtteilbewohnerInnen genutzte Fläche zur Profitmaximierung zu nutzen«. Zudem müsse das Bauprojekt als »Angriff auf einen linken Stadtteil und seine BewohnerInnen« verstanden werden.

In der Lokalpolitik wurde der Anschlag einhellig verurteilt, selbst in der linksradikalen Szene hielt sich die Zustimmung in Grenzen. So bewertete der örtliche Ableger der Interventionistischen Linken, eine Dachorganisation sozialrevolutionärer Gruppen, den Angriff als »daneben« und »nicht nachvollziehbar«. Umso mehr stellt sich die Frage, was die Täter bezweckten, welchen politischen Gewinn sie von ihrem Handeln erhofften? Die selbst ernannte Kiezmiliz, die den Überfall und fünf weitere Anschläge für sich reklamierte – wobei unklar ist, ob es sich um eine einzige Gruppe handelt oder ob verschiedene Akteure das Label nutzen –, gab in ihrem Schreiben einen Hinweis. Man freue sich darüber, mit der Zerstörung von Baufahrzeugen die Fertigstellung von Luxuswohnungen zu verzögern, doch habe diese Praxis nur symbolischen Charakter. Aufgrund des Versicherungsschutzes der Baufirmen würden die geplanten Bauprojekte früher oder später ohnehin umgesetzt. Deshalb habe sich die Gruppe entschlossen, »die Verantwortliche für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen, wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht«.

Im Bekennerschreiben stilisierte sich die Kiezmiliz zur Verteidigerin eines »linken Stadtteils« und seiner »BewohnerInnen«. Natürlich sprachen die Täter dabei ohne jegliche demokratische Legitimation und ignorierten damit auch den Fakt, das in Connewitz etwa 20 Prozent der besagten »BewohnerInnen« konservativ oder rechts wählen. Wie viele von denen, die sich im weitesten Sinne politisch links verorten würden, sich tatsächlich durch das Immobilienprojekt bedroht fühlten, spielte für die Kiezmiliz keine Rolle. In einem TV-Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks über den Vorfall verurteilten jedenfalls mehrere Bewohner, allesamt Kritiker der Mietpreisentwicklung im Stadtteil, den Anschlag. Dieser gehe ihnen deutlich zu weit. Nur eine Befragte zeigte Verständnis und sah im Angriff auf die Prokuristin eine Reaktion von Menschen, die in ihrer Existenz bedroht seien und sich nicht anders zu helfen wüssten.

Botschaften an sich selbst

Vieles spricht dafür, dass eine reale Existenzbedrohung nicht wirklich die Ursache des Angriffs ist, sondern eine ritualisierte Schutzbehauptung. Zweifellsohne gehört Leipzig zu den boomenden Großstädten, in denen die Mieten seit Jahren steigen. In einigen hippen Stadtteilen können sich Einkommensschwache schöne Wohnungen nicht mehr leisten, leerstehende Gründerzeithäuser und stillgelegte Industrieruinen sind nur noch selten zu haben. Doch parallel zu dieser Entwicklung wuchs die linksalternative Szene. Das bestätigt etwa schon ein Blick auf die Entwicklung des Connewitzer Fußballvereins Roter Stern. Von 1999 bis heute stieg die Mitgliederzahl des Vereins, der sich im Selbstverständnis »gegen jegliche Form von Ungleichheit« ausspricht, von nicht einmal 50 auf über 1.500. Gemessen an aktiven Fußballern ist er der größte Verein der Stadt. So wie er werden seit Jahrzehnten soziokulturelle Zentren, Wohnprojekte und Wagenplätze in Leipzig nicht nur geduldet, sondern häufig aus dem kommunalen Haushalt gefördert. Wenn auch die Pionierphase alternativer Gentrifizierungsscouts zu Ende geht, braucht es doch sehr viel Phantasie, um die linksalternative Szene der Stadt mit dem Rücken an der Wand zu sehen. Hingegen dürfte der Verdrängungsdruck für prekäre Alleinerziehende, arme Rentner und bildungsferne Geringverdiener gerade in alternativen Stadtteilen wie Connewitz vergleichsweise groß sein. Geholfen hat ihnen der militante Aktionismus nur in einer nichtintendierten und politisch äußerst problematischen Weise: So gerieten ob der Tat in Kommunal- und Landespolitik Unterstützer der Alternativkultur in die Defensive, während die Sicherheitsinteressen der Immobilienwirtschaft und die öffentliche Legitimität einer verschärften Ordnungspolitik gestärkt wurden. Dass solche Maßnahmen von sozial schlechter Gestellten nicht selten begrüßt werden, sollte linken Aktivisten zu denken geben.

Doch ist zu befürchten, dass der Denkvorgang der Kiezmilizionäre ziemlich selbstbezogen ist und die soziale Wirklichkeit in ihren Wahrnehmungen nur als Zerrbild vorkommt. Wie sonst könnten sie erwarten, durch gezielte Körperverletzung die sozial und ökonomisch vielschichtige Gentrifizierungsdynamik einer boomenden Großstadt zu unterbrechen? Glauben sie wirklich, die Bestrafung einer Person, die sich wie unzählige andere auch zweckrational in den herrschenden Verhältnissen bewegt, könne den Mechanismus von Angebot und Nachfrage aushebeln? Laut Selbstbezichtigung wünschten die Täter eine zunehmende Eskalation. Allen Personen, die in neue Wohnungen der angegriffenen Immobilienfirma investieren, einziehen oder das Bauprojekt anderweitig unterstützen, drohen sie »kaputte Scheiben, brennende Autos und kaputte Nasen« an.

Politisch bliebe auch diese Ausweitung sinnlos. Doch ist zu vermuten, dass der militante Ehrgeiz gar nicht einem konkreten Ziel gilt. Frei nach dem olympischen Motto »dabei sein ist alles« richtet die Kiezmiliz mit ihren Taten Botschaften an sich selbst und diejenigen, die in der Szene ähnlich ticken. Im linksradikalen Resonanzraum lässt sich derartige Steigerungsrhetorik wie auch die kurzzeitige öffentliche Aufregung nach solchen Taten als politische Relevanz missverstehen und schmeichelt den narzisstischen Bedürfnissen von Tätern und Sympathisanten. Nur hier dürfen sie hoffen, dass die politische Hülle, in die sie ihren bei der Tat erlebten Lustgewinn kleiden, ernstgenommen wird. Denn im Schutzraum der Szene gilt Gewalt gemeinhin als akzeptiert. Nicht nur weil sie einige Jahre wirksames Instrument der Notwehr gegen Neonazis war, sondern als Merkmal kollektiver Abgrenzung.

Rote Allez! Fraktion

In ironischer Anspielung auf die bekannteste deutsche Terrororganisation hat ein Fanclub der ersten Mannschaft des Roten Sterns sich den Namen Rote Allez! Fraktion gegeben. Das Wortspiel richtet sich gegen die Abwertung, die Fans eines linken Fußballvereins in der sächsischen Provinz durchaus noch entgegenschlagen kann. Die Rote Allez! Fraktion verbindet spätpubertären Pennälerhumor mit linksradikaler Folklore. Trotzdem bleibt als schwacher Abglanz ein Moment von Sympathie für die RAF. Nach wie vor ist in den subkulturellen Sphären der Linken die Vorstellung lebendig, es habe sich beim bewaffneten Kampf irgendwie um etwas Gutes gehandelt. Aus diesem Grund muss die Punkband Die Skeptiker auf Konzerten nicht mit Buh-Rufen rechnen, wenn sie ihr Kampflied »Deutschland halt‘s Maul« anstimmt. Im Gassenhauer der 1990er Jahre Hausbesetzer- und Antifa-Szene heißt es: »Ja wer das Geld hat, hat die Macht, denkt sich das fette Bonzenschwein, doch wenn es unter‘m Auto kracht, dann hilft es gar nichts reich zu sein.« Selbst wenn die Konzertbesucher eine Ahnung davon haben, dass die Songzeile auf den Mord an Alfred Herrhausen gemünzt ist, der als »Charaktermaske des Kapitals« am 30. November 1989 mit sieben Kilogramm TNT in Luft gesprengt wurde – im Einzelgespräch würde sich bierseelige Zustimmung zum politischen Attentat wohl selten als Bereitschaft zur Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung entpuppen. Vielmehr artikuliert sich hier die Romantisierung des bewaffneten Kampfes der terroristischen Linken zum Widerstand der Kleinen gegen die Großen. Baader, Meinhof und Ensslin genießen dabei in etwa den gleichen Status wie Störtebecker, Che, Hambi und Pipi Langstrumpf. Selbst die Köpfe der Kritischen Theorie können im mythologisierten Kampfkollektiv zwangsvergemeinschaftet werden, wenn sich etwa ein Teil der als links geltenden Ultras der Frankfurter Eintracht mit der Parole »Randale, Bambule, Frankfurter Schule« schmücken. Solche Bezüge kommen ohne Urteilskriterien aus und werden eher gefühlt als verstanden. Nicht die Auseinandersetzung mit Herrschaftsverhältnissen, Interessen und der Angemessenheit von Gewalt bestimmt die emotionale Nähe zu popkulturellen Leitfiguren des Aufruhrs, sondern die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Moral.

Gewalt und Gegengewalt 

In den politischen Kernzonen der autonomen Szene ist dieser Rechtfertigungszusammenhang ideologisch um einiges konsistenter bemäntelt. Stabilität und Beständigkeit bezieht er aus der sozialrevolutionären Selbstverortung von Gruppen und Aktivisten, die mehr oder weniger bewusst an marxistische Theorie, anarchistische Aufstandsprogrammatik und Traditionsbestände der Neuen Linken anschließen. Ausgangspunkt ist die objektiv richtige Analyse, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft mit Gewalt geformt wurde und nach wie vor zusammengehalten wird.

Bereits den Durchsetzungsprozess des betriebswirtschaftlichen Kalküls begleiteten Armut, Elend und Unterdrückung. Ein Teil der gewaltvollen Modernisierungsgeschichte hat sich bis heute im historischen Gedächtnis erhalten, etwa an die Aufstände der schlesischen Weber gegen ihre unmenschlichen Lebensumstände im 18. und 19. Jahrhundert, woran Robert Kurz im »Schwarzbuch des Kapitalismus« erinnert. Die erste industrielle Revolution hatte die Massenarbeitslosigkeit von Handwerkern und Manufakturangestellten zum Ergebnis und zwang die Menschen unter das Diktat der Fabrik. Für die englische Textilproduktion beschrieb der junge Friedrich Engels in seinem 1845 erstmals erschienenen Bericht über Die Lage der arbeitenden Klasse in England die extensive physische Ausbeutung des Menschenmaterials. Tägliche Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden, Kinderarbeit und körperliche Züchtigung gehörten zum Alltag. Hinzu kam, dass die Menschen zum Leben in verdreckten Slums gezwungen waren, umgeben von schmutzigen Abwässern, dem Rauch der Schlote unzähliger Gerbereien, Färbereien und Spinnereifabriken, die der Takt der Dampfmaschinen antrieb. Mit Blick auf den Industriestandort Manchester sprach Engels von der »Hölle auf Erden«. Versuche der Modernisierungsopfer, sich zu wehren, zogen die ganze Härte der Gesetze auf sich, die zur Absicherung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse erlassen worden waren. So reagierte die britische Regierung 1812 auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände nach einem Aufstand von Tuchscherern gegen eine moderne Fabrik in Yorkshire nicht nur mit einem massiven Truppeneinsatz, sondern auch mit der Einführung der Todesstrafe auf die Zerstörung von Maschinen. Das Gewaltmonopol des Staates schützte die Eigentumsordnung und mit ihr die Strukturen sozialer Ungleichheit. Geistesgeschichtlich abgesichert war die Ermächtigung des Souveräns durch die negative Anthropologie von Philosophen wie Thomas Hobbes, wonach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und sein Zusammenleben im Naturzustand zwangsläufig im Krieg aller gegen alle ende. Die ursprüngliche Legitimation des neuzeitlichen Absolutismus durch Hobbes wirkte als Rechtfertigung zentralisierter Staatsgewalt lange nach.

Die Arbeiterbewegung reagierte auf den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Staatsgewalt mit dem Konzept des Klassenkampfes. Dem Fortschrittsoptimismus von Marx galt die Gewalt als »Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht«. In der proletarischen Revolution sollte die Gewalt als Mittel der Befreiung das Ende der Klassenherrschaft und damit zugleich das Ende staatlicher Unterdrückung herbeiführen. Dabei forderte schon der Vordenker des Kommunismus die energische Diktatur als provisorischen Staatszustand, um die Revolution gegen ihre Feinde zu verteidigen. Danach allerdings, mit der Aufhebung der Klassengegensätze, verschwinde die Notwendigkeit einer organisierten Zentralgewalt. Das Ende der Unterdrückung sei das Ende der politischen Gewalt. Der proletarische Staat, so prognostizierte Friedrich Engels, stirbt in der freien Assoziation der Menschen ab. Lenin konkretisierte das Programm zur Machtübernahme. Eine hierarchisch organisierte Kaderpartei, die keine innere Opposition zulässt, wurde zum Instrument des politischen Kampfes und bildete später das Modell für den sozialistischen Herrschaftsapparat. Bei denen, die mit dem tatsächlichen Versuch des Kommunismus große Hoffnungen verbanden, schien die gewaltförmige Verteidigung der Revolution unabdingbar. Elektrisiert von den ersten Dekreten der Oktoberrevolution zur Beendigung des Krieges und zur Landreform verschlossen viele die Augen davor, als Tscheka und Rote Armee den Terror nicht nur gegen die wirklichen Feinde der Bolschewiki entfachten. In blinder Willkür konnte die staatliche Gewalt alle treffen, die unter das Verdikt gerieten, als »Volksfeind« und »Parasit« der Revolution zu schaden. Lenins Aufruf zur »Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer« richtete sich gegen »Reiche«, »Müßiggänger« und »bürgerliche Intellektuelle« und damit gegen eine ganze soziale Schicht, der ihre »Ausrottung« angekündigt wurde. Der Rote Terror verfuhr danach. Die revolutionäre Gewalt verlor ihre Unschuld, die sie als kommunistische Idee der Befreiung noch beanspruchen konnte. 

Kriegsrufe

Die sich in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren herausbildende Neue Linke ging auf Distanz zu traditionellem Arbeiterbewegungsmarxismus und Realsozialismus. Allerdings bekam sie recht schnell einen nachdrücklichen Eindruck staatlicher Gewalt. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, der an einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des iranischen Schah Mohammad Reza Pahlavi teilgenommen hatte, war das Ergebnis einer repressiven politischen Kultur, die sich gegenüber Gesellschaftskritik unversöhnlich zeigte. Völlig grundlos wurde Ohnesorg von Berliner Polizisten geschlagen, bevor ihm der Polizeibeamte Karl-Heinz-Kurras aus nächster Nähe in den Hinterkopf schoss. Aufgrund der antikommunistischen Frontstellung Westdeutschlands schlug der noch von den Parteigängern der Nazis durchsetzte Staatsapparat mit ideologischer Härte gegen die Studentenbewegung zu. Der Mörder Ohnesorgs blieb trotz erdrückender Indizien, dass er nicht in Notwehr gehandelt hatte, von Haft verschont. Das Mitglied der Kommune 1, Fritz Teufel kam dagegen für 70 Tage in Untersuchungshaft, weil er auf der Anti-Schah-Demonstration einen Stein auf Polizeibeamte geworfen haben soll. Während des Prozesses gegen ihn und andere Mitbewohner seiner Wohngemeinschaft, die mit politischen Happenings die bundesrepublikanische Nachkriegskultur herausforderten, schlug den Angeklagten von Beobachtern und aufgebrachten Bürgern nicht selten die Drohung entgegen, man wolle sie in die Gaskammer schicken.

Staatsgewalt und Gesellschaftspolitik standen dem Kommunismus, ebenso aber bürgerrechtlichen Forderungen und Demokratisierungsbestrebungen feindlich gegenüber. Das radikalisierte die außerparlamentarische Opposition erheblich, wie Wolfgang Kraushaar aufgezeigt hat. Hinzu kam die Folgenlosigkeit legaler Proteste. Das führende Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) Peter Schneider fasste auf einem Sit-in an der Freien Universität Berlin das Phänomen in den Satz: »Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne daß die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber daß wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.«

Die Hinwendung der außerparlamentarischen Opposition (APO) zur Gewalt war aber nicht allein eine Reaktion auf die restaurative Ordnung der Bundesrepublik. Der Historiker Jan Gerber beschreibt in seiner lesenswerten Geschichte der radikalen Linken im Kalten Krieg eine Suchbewegung, die von einer doppelten Enttäuschung ausgelöst wurde. Zum einen entpuppte sich die Orientierung an der Sowjetunion als Problem. Wegen ihrer Rolle im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland hatte sie weltweit an Ansehen gewonnen. Doch spätestens mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 war dieser Sympathiebonus aufgebraucht. Hatte kurz zuvor noch die Rede des Stalin-Nachfolgers Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU Hoffnung auf die Reformfähigkeit des Sozialismus geweckt, wendeten sich linke Intellektuelle angesichts von Panzern mit rotem Stern auf den Straßen von Budapest von den an Moskau orientierten kommunistischen Parteien in Europa ab. Im antikolonialen Befreiungskampf der sogenannten Dritten Welt fanden viele von Ihnen ein Ersatzobjekt.

Die APO hatte noch eine weitere unerfüllte Erwartung zu verarbeiten. Das Proletariat zeigte kein Interesse an der Revolution. Das allgemeine Wohlstandsniveau wuchs in den industrialisierten Kernstaaten infolge des wirtschaftlichen Nachkriegsbooms enorm. Für die von Vollbeschäftigung, steigenden Löhnen und den Verlockungen des Massenkonsums profitierende Arbeiterklasse erschienen die Unwägbarkeiten eines sozialistischen Umsturzes alles andere als verlockend. Auch deshalb entdeckten Linke als Substitut »Die Verdammten dieser Erde«. Das gleichnamige Buch von Frantz Fanon war 1966 bei Suhrkamp erschienen und entwickelte sich schnell zur Inspirationsquelle der APO. Fanon, ein ehemaliger Freiwilliger der französischen Streitkräfte, hatte unter dem Befehl Charles de Gaulles nach der Niederlage von 1940 weiter gegen die Deutschen und das mit ihnen verbündete Vichy-Regime gekämpft. Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus bemerkte er, geboren im französischen Überseedepartement Martinique, die Ungleichbehandlung jener Soldaten, deren Herkunft aus den französischen Kolonien sichtbar war. Die Erfahrung des kolonialen Rassismus setze sich später fort. Seit den fünfziger Jahren arbeitete Fanon als Arzt in Algerien und wurde hier zu einem Vordenker der antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika. Die Auseinandersetzung mit Gewalt nahm dabei einen zentralen Stellenwert ein. Fanon begriff sie nicht nur als Mittel, um die koloniale Macht abzustreifen, er kennzeichnete sie darüber hinaus als Voraussetzung einer mentalen Befreiung. Erst mit ihrem Gebrauch würden die Kolonisierten die verinnerlichten Formen der Unterordnung und der entfremdenden Orientierung an den Europäern überwinden können.

Nicht minder elektrisierend wirkte sich die Lektüre der Schriften Che Guevaras aus. Noch 1967, im Todesjahr des bereits zu Lebzeiten mythisch verklärten Guerillakommandeurs, erschien sein Aufruf Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam, ins Deutsche übersetzt unter anderen von Rudi Dutschke, einer Führungsfigur des SDS. Das Manifest für eine weltweite Gründung von Guerillaeinheiten richtete sich gegen die kommunistischen Parteien in Latein- und Südamerika, die aufgrund fehlender sozioökonomischer Voraussetzungen Guevaras Partisanentaktik für aussichtslos, zumindest für verfrüht hielten und zudem auf Geheiß der Sowjetunion die friedliche Koexistenz mit den Vereinigten Staaten nicht riskieren wollten. Umso mehr fühlten sich die antiautoritären Linken in der Bundesrepublik von der »Kampfansage an den Imperialismus« des Berufsrevolutionärs aus Lateinamerika angesprochen. 

Getrieben vom Wunsch, Agens eines revolutionären Moments zu sein, verwischte die sich radikalisierende Neue Linke die Unterschiede zwischen kolonialer Unterdrückung, tatsächlichen Diktaturerfahrungen und politischer Repression in Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Sie eignete sich distanzlos Theorie und Praxis antikolonialer Befreiung an und überfrachtete dabei tatsächliche soziale Widersprüche mit Ideologie. Auf der Strategiekonferenz des SDS forderte Dutschke bereits im Herbst 1967, die Studentenorganisation müsse sich in eine »Verweigerungs- und Sabotage-Guerilla« verwandeln. Später folgte der Aufruf zur Bildung von »Guerilla-Einheiten« an den Universitäten und zum Aufbau eines »urbanen militärischen Apparats«. Analog zum antikolonialen Befreiungskampf sollte die Stadtguerilla – zunächst nur von Randgruppen der radikalen Studenten getragen – mit direkten Aktionen das Bewusstsein der Massen entwickeln und die »Aufstandsphase der Revolution« einleiten.

Recht auf Widerstand

Einen weiteren Pfeiler des theoretischen Unterbaus revolutionärer Ungeduld lieferte die Rezeption des deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse. Mit seinem 1965 erschienen Aufsatz »Repressive Toleranz« und der 1967 in Deutschland veröffentlichen Schrift »Der eindimensionale Mensch« wurde der ehemalige Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Freund Theodor W. Adornos zu einem der beliebtesten intellektuellen Stichwortgeber der APO. Marcuses Gesellschaftskritik setzte an der Integrationsleistung des Wohlfahrtskapitalismus an. Die Güter und Dienstleistungen, die der Produktionsapparat herstellt, würden die Arbeiter in das System einbinden, ja mehr noch zur vollständigen Identifizierung mit ihm führen. Den mechanisierten und damit abstumpfenden Tätigkeiten an den Fließbändern entsprächen standardisierte Formen des Massenkonsums; ein eindimensionales Denken präge sowohl Produktion als auch Konsumtion. Schien Marcuse zunächst keinen Ausweg aus diesem Reproduktionszusammenhang zu sehen, begann er im Verlauf der Proteste gegen den Vietnamkrieg die Rebellion der oppositionellen und studentischen Jugend in Amerika und Europa als revolutionäre Kraft zu begreifen. Da die Protestbewegung die bisher unpolitischen Lebensbereiche der nichtmateriellen Bedürfnisse und der Natur politisiere, könne ihre Gegenkultur den Weg zur Befreiung vom Kapitalismus weisen.

Wenige Wochen nach dem Tod Benno Ohnesorgs kam Marcuse im Juli 1967 auf Einladung des SDS zu einer Vortragsreihe über »Das Ende der Utopie« nach Berlin. Sein zweiter Vortrag thematisierte »Das Problem der Gewalt in der Opposition«. Er griff einen Gedanken aus »Repressive Toleranz« auf, wonach unterdrückte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand beanspruchen dürften, selbst wenn dies bedeute, sich gegen eine Verfassungsordnung und die Mehrheit der Bevölkerung gewaltsam zu wehren. Gegenüber der institutionalisierten Gewalt des Staates und dem positiven Recht bleibe diese »Gewalt des Widerstandes« zwar illegal. Mit der Berufung auf das allgemeine Interesse von Frieden und Humanität könne sie aber durchaus ein höheres Recht in Anspruch nehmen und stehe zudem in der Tradition des Fortschritts innerhalb der westlichen Zivilisation. In Fragen konkreter Praxis blieb Marcuse zurückhaltend. Er konkretisierte sein metphysisches Rechtfertigungsschema einzig mit der Beschreibung von Aktionen zivilen Ungehorsams, etwa den berühmten Sit-ins. Später, im Zuge des linken Terrorismus, warnte er vor einem übermäßigen Gebrauch der Gewalt, der die Isolation der Opposition verschärfe, anstatt ihre Basis zu vergrößern.

Ein nicht geringer Teil der linken Opposition füllte die in Marcuses Widerstandsrecht angelegte Unbestimmtheit bald schon mit revolutionärem Voluntarismus aus. Der auf der Vortragsreihe in Berlin im Publikum anwesende Dutschke schlug bereits in der anschließenden Diskussion eine »konkrete […] Aktion gegen die Manipulationspresse« als wichtigen Schritt gegen die systematische Manipulation der Bevölkerung vor. Dutschkes Handlungskonzept für die studentische Opposition sah zudem gezielte Schläge gegen Parlamente, Gerichtsgebäude, Polizeistationen und andere Institutionen des Staates und der etablierten Politik vor. Damit sollte die mittels Medienmanipulation und Massenkonsum verdeckte Gewalt des kapitalistischen Systems herauskitzelt und den bisher geblendeten Massen die Augen geöffnet werden. In Anlehnung daran formulierte nicht viel später die RAF ihr Konzept Stadtguerilla und versuchte im bewaffneten »Primat der Praxis« die vermeintlichen »Widersprüche im Bewußtsein aller Unterdrückten« zur revolutionären Situation zu entfalten. Die Urheber der Serie von Brandanschlägen, Banküberfällen, Bombenlegungen, Entführungen und Attentaten sahen sich selbst im Einklang mit dem von Marcuse proklamierten Widerstandsrecht. Sowohl Andreas Baader als auch Dieter Kunzelmann, Kopf der Tupamaros West-Berlin, deren erster Anschlag dem Berliner jüdischen Gemeindehaus galt, beriefen sich explizit auf dieses Konzept.

Der Wille weiterzumachen 

Der Glaube an eine revolutionäre Zukunft und das Recht auf Widerstand befeuerten eine Entgrenzung linker Gewalt. Der Terror von RAF, Revolutionären Zellen (RZ), Bewegung 2. Juni und anderen Organisationen ließ sich bei einigermaßen objektiver Betrachtung nicht als Notwehr gegen eine veränderungsrenitente Gesellschaft verstehen. Opposition war außerparlamentarisch und innerhalb des »Systems« möglich, kulturell modernisierte sich das Land und das Proletariat verelendete auch nach dem Ende der fordistischen Wachstumsperiode nicht. Das Festhalten an einer Umsturzperspektive, die im Namen der Unterdrückten mit Bomben, Knieschüssen und Entführungen erzwungen werden sollte, wurde immer unhaltbarer. Doch benebelt vom historischen Geschichtsoptimismus fiel ein Zurück schwer. Die Pistoleros der militanten Gruppen und Terrororganisationen hielten am Phantasma revolutionären Wandels fest und stabilisierten mit jedem Anschlag die eigene, von der Empirie abgeschirmte Gedankenwelt. Noch die größte Wirkung der RAF, im Deutschen Herbst die hässliche Fratze staatlicher Souveränität heraufbeschworen zu haben, erreichte nur die vollständige politische Isolation der radikalen Linken. Angesichts der Fähigkeit des Staates im Ausnahmezustand wendeten sich Linksliberale nicht von der Herrschaft, sondern von den vagen Visionen des bewaffneten Kampfes ab.

Das galt den Militanten und gilt ihnen bis heute als Verrat, war aber im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse ziemlich vernünftig. Denn diese rückten gar nicht immer weiter nach rechts, wie gebetsmühlenartig wiederholt wurde. Vielmehr brach sich, angetrieben von ökonomischen Verwertungsproblemen, technologischem Fortschritt und den postmaterialistischen Werten der Achtundsechziger ein weitreichender Wandel Bahn. Fließbandproduktion und Massenkonsum, die jahrzehntelang im Zentrum linker Gesellschaftskritik standen, wurden nach und nach von der Computerisierung der Arbeitswelt, Formen der Kreativwirtschaft und einer sich diversifizierenden Konsumkultur verdrängt. Der neue Integrationsmodus kapitalistischer Herrschaft bediente sich der Ideen der Alternativkultur und inkorporierte ihre Vorstellungen von Sinnstiftung und gelingender Selbstverwirklichung. Marcuses Hoffnung auf eine von studentischen Randgruppen und einer Gegenkultur ausgehenden Transformation wurde wahr und blieb zugleich uneingelöst. Es änderten sich Bewusstseinsstrukturen und Konsumverhalten, aber das Reich der Gleichen und Freien, in dem die Mitglieder kollektiv über die notwendige Arbeit entscheiden und die im Zuge des technologischen Fortschritts möglichen Freizeitpotenziale zu ihrer Erbauung nutzen wollten, verwirklichte sich nicht. Im Gegenteil, indem er ökologische und identitätspolitische Ansprüche vormals diskriminierter Gruppen integrierte, erschien der spätmoderne Kapitalismus widerspruchfreier als je zuvor.

Die aus der Neuen Linken hervorgegangenen sozialen Bewegungen waren für diese Entwicklung Experimentierlabor und Durchsetzungsinstanz zugleich. Die Hausbesetzerszene etwa eroberte seit Ende der siebziger Jahre großstädtische Altbaukieze, die von städtebaulicher Modernisierungswut bedroht waren. Sie wurden zum Abenteuerspielplatz und Kreativraum für Künstler, alternative Pädagogik und eine linke Nischenökonomie. Später wurde klar, dass die alternativen Wohnformen den Grundstein für urbane Hochpreisquartiere legten, die trotzdem als Orte unkonventioneller Lebensweisen gelten und insbesondere bei jungen Akademikern beliebt sind. Obwohl sich Marktradikalismus und die Zurückdrängung des Sozialstaates immer deutlicher abzeichneten, entfachte der kapitalistische Strukturwandel kein neues Klassenbewusstsein. Vollständig sichtbar wurde die Misere, als mit dem Ostblock auch die Hilfskonstruktionen des linksradikalen Bewusstseins zusammenbrachen. Zwar hatte die Neue Linke an der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten die bürokratische Herrschaftsarchitektur kritisiert. Als Schutzmacht sozialistisch orientierter Staaten in der Dritten Welt, als Waffenlieferant für linke Guerillas und als lebendiger Beweis, dass der Aufbau des Sozialismus tatsächlich möglich sei, stellte sie gleichwohl einen faktischen und ideellen Rückhalt dar. Jetzt aber hatten sich die Proletarier im Osten, die das mit Blick auf Arbeitsbedingungen und Lebenserwartung noch viel eher waren als die Arbeitnehmer im Westen, für liberale Demokratie und westliches Konsumniveau entschieden. Der Umsturz war zweifelsohne eine Revolution, getragen von den Massen, jedoch ein Waterloo für alle Linksradikalen, die sich mit ihren Kleinstparteien, K-Gruppen, autonomen Jugendzentren und Universitätsstellen im westdeutschen Wohlstandskapitalismus behaglich eingerichtet hatten und von hier aus den kommunistischen Umsturz predigten.

Der antiimperialistischen Sehnsucht erging es nicht besser. Dort wo nationale Befreiungsbewegungen an die Macht gelangt waren, etwa in Algerien, hatten sie ihre Herrschaft schon vor dem Ende des großen Bruders Sowjetunion nur durch autoritäre Einparteiensysteme sichern können, jetzt versuchten sie sich mit verschärfter Repression gegen oftmals religiös-fundamentalistische Oppositionsbestrebungen am Ruder zu halten. Erfolgreich blieben sie, wie etwa Daniel Ortega in Nicaragua, nur mit einer Mischung aus religiöser Rückbesinnung, nationalem Populismus, Korruption und Staatsgewalt. Die Hoffnung, der Aufstand der Verdammten dieser Erde führe zu etwas Gutem, war nur noch bei völliger Weltfremdheit am Leben zu erhalten.

Organisationen wie die RAF hatten diesbezüglich einiges zu bieten. Noch am 13. Februar 1991 gab ein Kommando der RAF 250 Schüsse auf die US-amerikanische Botschaft ab, um damit ein Fanal gegen den Zweiten Golfkrieg zu setzen. Tatsächlich teilten große Teile der Bevölkerung die Ansicht, der imperiale Aggressor seien die Vereinigten Staaten und diese müssten in ihre Grenzen verwiesen werden. Nur reichte ihnen die staatsnahe Friedensbewegung völlig aus, um antiamerikanische Bedürfnisse auszuleben. Eine Perspektive zum Systemumsturz ergab sich daraus nicht. Am Ende ihrer Geschichte gaben die Totengräber der RAF mit einem Hauch von selbstkritischem Realismus zu, dass die antiimperialistische Strategie unterm Strich gescheitert war: »Die Wirkung in die Gesellschaft«, sei begrenzt geblieben, »die Vorstellung« mittels antiimperialistischer Aktionen »gesellschaftliches Bewußtsein« zu schaffen, um so den »Konsens zwischen Staat und Gesellschaft« aufzubrechen, habe sich nicht eingelöst. Obwohl es den Genossen der RAF »wichtig« war, habe es auch nicht geklappt, »nach dem Zusammenbruch der DDR unseren Kampf in ein Verhältnis zur neuentstandenen gesellschaftlichen Situation zu bringen«. Den angesichts der weitreichenden Zustimmung zu Kapitalismus und Wiedervereinigung völlig irrwitzigen Versuch, die Ostdeutschen zum revolutionären Kampf zu agitieren, musste der Präsident der Treuhandanstalt Detlef Karsten Rohwedder im April 1991 mit dem Leben bezahlen. Sieben Jahre danach, im März 1998, löste sich die RAF auf. Ohne ein Wort des Bedauerns für die von ihr getöteten Opfer, dafür mit einigem Stolz auf die eigene Geschichte.

Der gesamte Rest der außerparlamentarischen Linken kämpfte im gleichen Zeitraum weniger mit dem System, sondern versuchte sich in schwierigen Diskussionen einen Reim auf die sich wandelnden Verhältnisse zu machen. Angesichts sinkender Mitgliedszahlen und Mobilisierungserfolge bemühte sich 1989/90 eine Initiative unter dem Namen Radikale Linke um eine Sammlungsbewegung aus militanten Gruppen, Kleinstparteien und Aktivisten der neuen sozialen Bewegungen. Zum aufrufenden Personenkreis gehörten unter anderem linke Grüne wie Thomas Ebermann, Rainer Trampert und Angelika Beer, zu den ersten Diskutanten der DKP-Politikprofessor Georg Fülberth, eine Gruppe Revolutionäre Sozialisten und die MKP/Westberlin. Den Modernisierungsprozess begriffen die Initiatoren in einem Diskussionspapier nicht ganz falsch als Angriff des Kapitals auf den Sozialstaat der fordistischen Epoche. Allerdings missdeuteten sie die damit einhergehende kulturelle Liberalisierung der Bunderepublik als politizistische Strategie staatstragender Kräfte, mit der es gelungen sei, anpassungsbereite Linke ins bürgerliche System zu integrieren. Hinter der vermeintlich progressiven Fassade von Geschlechtergleichstellung, ökologischem Bewusstsein und Individualisierung offenbare sich in verschärfter Form nur die altbekannte Unterdrückung und »die Ausgrenzung aller unangepaßten sozialen und nationalen Minderheiten«.

In Wirklichkeit war man Zeuge eines sich durchsetzenden »liberalen Dynamisierungsparadigmas« (Andreas Reckwitz) geworden. Es umfasste sowohl sozio-ökonomische als auch soziokulturelle Aspekte, die allerdings funktional ineinander verschränkt und damit zugleich neoliberal wie auch linksliberal waren. Die Radikale Linke aber verstand nur den ökonomischen Teil halbwegs richtig, gegenüber dem soziokulturellen Wandel blieb sie einigermaßen kurzsichtig. Mit eingeschränktem Blickfeld versuchte sie durch den Nebel der Transformation zu steuern und versprach sich Orientierung von vertrauten Konzepten. Deutlich schimmerte jedenfalls Marcuses in die Jahre gekommene Idee avantgardistischer Randgruppen durch, wenn die Radikale Linke zur Erneuerung einer »leistungs- und integrationsfeindlichen Gegenkultur« aufrief. Ganz im Sinne dieses Konservatismus rechtfertigte eine Revolutionäre Zelle im Diskussionsreader die Unbedingtheit praktischer Militanz. Ohne sie würden sich weder Staat und Kapital noch die »verinnerlichten Gewaltverhältnisse« überwinden lassen. Ganz Tatmenschen schlugen die Autoren vor, durch die Fabrikation von Sachschaden kleine High-Tech-Betriebe in alternativen Stadtteilen zur Aufgabe zu zwingen, um damit den Einzug von Mikroelektronik und Yuppie-Kultur wenigstens in der Linken zurückzudrängen. In Anbetracht des sich in den achtziger Jahren durchsetzenden Technologiewandels nur eine weitere Donquichotterie aus dem linksradikalen Kuriositätenkabinett.

Infantilisierung der Revolte

Der subjektivistische Lebensweltbezug der Autonomen überstand die Wandlungen der Zeit; um einiges besser als die linksterroristischen Strukturen. Mit der Betonung einer »Politik der ersten Person«, die auf die unmittelbare Befriedigung persönlicher Lebensbedürfnisse zielte, lag man ganz auf der Linie des postmateriellen Wertewandels, der gelebte Kreativität, Selbstverwirklichung und Genuss dem materiellen Statusgewinn und der Integration in ein strenges Arbeitsregime vorzog. Auch ihr theoretischer und historischer Eklektizismus, der sich Bezüge auf Marxismus und Anarchismus, Operaismus und Poststrukturalismus ebenso erlaubte wie weitgehende Theorielosigkeit, machte die autonome Bewegung gegenüber den Fährnissen des gesellschaftlichen Wandels einigermaßen flexibel. Als undogmatisches Abfallprodukt des Revolutionsradikalismus der siebziger Jahre knüpften die aus den Spontis hervorgegangenen Autonomen ihr politisches Selbstverständnis nicht an eine schematische Strategie. Die grundsätzliche Opposition zu den herrschenden Verhältnissen sollte durch individuelle Verhaltensänderung und eine politisch korrekte Alltagspraxis im Mikrokosmos von Szene und Kleingruppe vorgelebt werden. In der Hauspostille radikal formulierte 1980 eine Gruppe mit dem Namen Rauchende Bulldoozer Alaskas den Anspruch einer gegenwartbezogenen Utopie: »Wir bereiten nicht mehr unsere Befreiung oder die Weltrevolution vor, […] wir spielen einfach […], holen uns einfach die Stereoanlage, auf die wir schon immer scharf waren […]. Zünden Karstadt an, nicht um gegen das Morden in El Salvador zu protestieren, nein der Winter ist zu kalt, so wird‘s auf dem Kuhdamm ein bisschen wärmer […] und plötzlich ist selbst die Ebene des Gebrauchswerts verlassen.«

Statt Revolution propagierten die Autonomen die Revolte. Schon die Zurücknahme der Programmatik gibt einen Hinweis darauf, dass die Verhältnisse so bedrückend nicht waren. Zumindest boten sie den zumeist jungen Protagonisten der autonomen Szene die Option auf einen frei wählbaren Lebensstil. Abgefedert von einem noch etwas dichter geknüpften sozialen Netz probierten sie sich im Alltag spielend aus, forderten mal den Atomausstieg, mal das Ende eines Flughafenausbaus und randalierten bei ihren Teilbereichskämpfen immer kräftig rum. Auch wenn sie sich dabei weniger als eine zum Äußersten gezwungene Opposition stilisierten, der gar nichts anderes übrigbleibe, als Revolution zu machen, trugen sie ihre positive Einstellung zur Militanz wie eine Monstranz vor sich her. Im uniformierten schwarzen Block, den ritualisierten Straßenkrawallen und in der geheimniskrämerischen Existenzweise von Kleingruppen ging die Gewaltbereitschaft ins Habituelle über und wurde im Laufe wechselnder Kampagnen zum eigentlichen Inhalt des autonomen Selbstverständnisses.

Geradezu naiv ehrlich gibt darüber der 2003 im Verlag Assoziation A erschienene Band Autonome in Bewegung Auskunft. In dem von Angehörigen der Erlebnisgeneration verfassten und zusammengestellten Band heißt es zur Militanz, diese habe sich zum »identitätsstiftenden, prägenden Bestandteil der Bewegungserfahrung« entwickelt, die allen Autonomen gemeinsam sei. Die Bereitschaft zur politisch verstandenen Gewalt rühre dabei »nicht aus theoretischen Erwägungen«, sondern ergebe sich »aus den äußeren Bedingungen«. Da die »verhältnismäßig satte Wohlstandsgesellschaft der BRD […] mit repressiver Toleranz und Ignoranz auf radikalen Protest« reagiere und »gerne ihre Stabilität und Macht« demonstriere, müsse der Protest sich zwangsläufig radikalisieren: »Die eigene Radikalität will sich äußern und prallt auf polizeiliche Gewalt.« Die Argumentation erinnert entfernt an Kleinkinder in der sogenannten Rotz- und Trotzphase. Unerfüllt bleibende Wünsche oder die Einübung zwischenmenschlich notwendiger Regelkonformität führt im Alter von zwei bis sechs Jahren häufig zu Wutanfällen. Und so wie Kleinkinder an ihrer zunächst noch nicht ausgeprägten Empathiefähigkeit verzweifeln, kamen auch die Autonomen der A.G. Grauwacke nicht auf die Idee, dass ja auch etwas an ihrem Protest falsch gewesen sein könnte, wenn die Gesellschaft ihn ignoriert. Stattdessen anthropologisieren sie ihren Hang zur Gewalttätigkeit lieber als infantiles Verhaltensmuster. Bezeichnenderweise illustrieren sie ihr Militanz-Kapitel nicht nur mit dem Bild eines Einkaufswagens voller Pflastersteine, sondern auch mit der Abbildung eines kleinen, vielleicht 8-jährigen indigenen Jungen, der mittels Steinschleuder ein nicht erkennbares Ziel anvisiert. Die Bebilderung ist Gleichnis für die naturwüchsige Berechtigung und kindgemäße Unschuld aller Kämpfe autonomer Stadtindianer. Als solches ist es nicht nur falsch, sondern ebenso Ausdruck einer intellektuellen Selbstentmündigung. Die wird im weiteren Textverlauf auch explizit, wenn erklärt wird, wie die Gewalttat den Autonomen einfach überkommt und erst danach das Nachdenken einsetzt: »Das Bewußtsein, was da warum getan wurde, kommt oft erst im Nachhinein. Deshalb hinken militante Analyse und Theorie oft der entsprechenden Praxis hinterher.« Was auch immer unter einer militanten Analyse zu verstehen ist, deutlich wird, dass die Autoren der illustrierten Werbebroschüre es mit der Begründung der Gewalt nicht besonders ernst meinen.

Zärtlichkeit und Härte

In seinem erhellenden Buch über »Das rote Jahrzehnt« entschlüsselte Gerd Koenen die Funktionen der »Droge ›Militanz‹« für die autonome Szene. Sie schaffe nicht nur Gemeinschaftsgefühl: »Der ständige Außendruck von Kampf und Verfolgung, dieses kunstvoll inszenierte Tantra der Gewalt«, entwickle im Inneren der Szene eine geradezu »libidinöse Spannung«. Die »Dualität von ›Zärtlichkeit und Härte‹«, ein Slogan, den die Autonomen prägten, sei tatsächlich ihr »eigentliches Betriebsgeheimnis«. Die Bekenntnisse der gegenwärtigen Autonomengeneration deuten in die gleiche Richtung. Bildreich schildern einige von ihnen das Kampfgetümmel während der G20-Randale in Hamburg im Sommer 2017: »Der Wasserwerfer schließt auf, Sirenen ertönen, er hält genau vor eurer Kette. Es gibt eine Szene in ‚Der Herr der Ringe‘, in welcher die Orks zurückfallen, um Platz für den mächtigen Balrog zu schaffen, der dann die Protagonisten angreift. Ähnlich ziehen sich die weiß behelmten Polizist*innen zurück, während der Wasserwerfer seine Rohre auf dich ausrichtet. Es liegt immer noch Tränengas in der Luft. Die Genoss*innen hinter dir sind bereits geflohen. Ohrenbetäubender Lärm. Du bist nun von drei Seiten umzingelt von Sturmtruppen, die von Kopf bis Fuß in entsprechender Schutzkleidung stecken. Es könnte kaum beängstigender sein, wenn sich die Erde auftut und aus dem Abgrund Flammen schlagen. Welcome to Hell, in der Tat. Unglaublicherweise halten die ersten Reihen des schwarzen Block ihre Position unter diesen Bedingungen über fünf Minuten lang.«

Oft schon und auch mit Blick auf die Hamburger Krawalle wurde festgestellt, dass die linke Begeisterung für Kampf und Aktion eigentlich in einer rechten Denktradition steht. Tatsächlich mag die Diktion einiger Berichte entfernt an Ernst Jüngers »Der Kampf als inneres Erlebnis« erinnern, der die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges als Charakterbildung beschönigte. Doch am Lob des Heldenmuts für die Ziehdauer einer Maggi-Suppenterrine und dem Gleichnis der Fantasiewelten von Peter Jacksons Filmtrilogie fällt eher das Groteske des autonomen Straßenkampfexpressionismus ins Auge. Nicht die Stahlgewitter der Weltkriegsepoche bilden den Erfahrungshorizont linker Straßenkrieger, sondern Muttis Fernsehcouch und ein halbes Leben Zocken vorm Computerbildschirm. Die Angehörigen einer von den Lebensumständen verwöhnten Generation mögen es noch im Moment ihrer bisher aufregendsten existenziellen Erfahrung luxuriös nicht spartanisch und achten auf ihre War-Life-Balance: »Es ist früher Abend, völlig erschöpft vom stundenlangen Kämpfen fallen wir in das Appartement. Wir kommen direkt aus dem Riot, müssen kurz verschnaufen. […] Hier sitzen Leute auf dem Sofa und schauen irgendeinen livestream. […] Nach 30 Minuten Schlaf schauen wir uns auch den livestream an: Am Schulterblatt werfen Leute Flaschen von verschiedenen Seiten auf Bullen, der Wasserwerfer spritzt in alle Richtungen, die Stimmung steigt. […] wir gehen raus auf die Straße. […] Du kämpfst, kannst aus dem Fenster Leuten beim Kämpfen zu schauen, und du wie Millionen andere sehen im Fernseher dich und andere kämpfen.« Das Loblied auf die Schönheit der Gewalt zeigt sich hier in einer spätmodernen Intonation. Zweifelsohne dient es der Abdichtung gegen Mitgefühl für eventuelle Opfer, stiftet Zusammenhalt und unterscheidet zwischen Freund und Feind. Doch nicht protofaschistische Stärke, Manneszucht und Heldentum werden besungen, sondern aus den Zeilen schreit medialer Bedeutungshunger und das Bedürfnis nach Resonanz. Noch während der Ausschreitungen machten in den sozialen Netzwerken zahlreiche Selfies, aufgenommen vor brennenden Barrikaden, die Runde.

Atmosphäre wilder Festlichkeit

Der Verherrlichung der Gewalt entspricht die Verklärung der Binnenatmosphäre des Krawalls. In den schillerndsten Farben schilderten Sympathisanten des Insurrektionalismus ihre Impressionen aus dem »befreiten« Gebiet, also von dort, wo zwischenzeitlich keine Polizei mehr anwesend war. Im Schwelgen an die Ereignisse fühlten sich die Autoren der Gruppe Imaginäre Partei – Li.Ke. Kommando gar zur Poesie berufen. Schon der Titel ihres Berichts ist primitivste Aufstandslyrik: »Unsere Nächte brauchen keine Sterne mehr um zu leuchten«. Wenig später folgt ihr Revolutionsgedicht: »Freitagabend / warm, sommerlich / Tausende Menschen in den Straßen / Und tausende Bullen. / Barrikaden brennen, / Ein Bewohner beschallt von seinem Balkon die Nacht mit Musik / Wir tanzen unten, / Und dort greifen wir die Polizisten an, /Stundenlang. / Etwas weiter, wir trinken Bier, entspannt diskutieren wir miteinander / ge-plünderte Supermärkte und Läden. / Die eine oder andere Oma und einige junge Maskierte mit vollen Armen …. / Schokolade und Macbooks für alle! / […]/ Ein aufgedrehtes Pärchen fickt auf dem dritten Stock eines Baugerüsts / Darunter ein Spirituosengeschäft mit geborstenen Scheiben, der Inhaber bietet Vorbeiströmenden Wein an […].«  Der Riot als Rausch und Triebabfuhr, deutlicher lässt es sich nicht ausdrücken. 

Etwas analytischer formulierten andere Beobachter. Demnach schuf die Selbstermächtigung der Stimmlosen eine »gemeinsame emotionale Erfahrung«, mit der die »gesellschaftliche Tendenz der Vereinzelung« für einen Moment suspendiert galt. Andere sprachen von einer «Atmosphäre wilder Festlichkeit und großer Kompliz*innenschaft. Viele Geschäfte hatten offen, voller Leute, die sich Falafel oder Getränke kauften. Als die Leute am Straßenrand den an-kommenden Fahrradfahrer*innen zujubelten, hätte es ein familienfreundliches Festival sein können.« Friede, Freude, Falafel – jedenfalls hinter der einen Seite der Barrikade und die Ängste derjenigen Mieter, die angesichts unter ihnen brennender Geschäfte um ihre Sicherheit fürchteten, mal nicht mitgerechnet. 

Doch was ist das Besondere daran? Für nicht wenige Protagonisten der Hamburger Proteste dürften Besuche in den angesagten Szeneclubs zum Wochenendalltag gehören, auf Festivals wie der Fusion feiern seit Jahren tausende unter dem Motto »Ferienkommunismus«. Auch hier lobt man das achtsame Miteinander, die emotionale Nähe und ist mit oder ohne synthetische Drogen gut drauf. Überhaupt ist die Lebenswelt akademischer Linker voll von Möglichkeiten, musikalische, sexuelle und kreative Vorlieben auszuprobieren. Das System jedenfalls legt performativer Selbstverwirklichung bis hinein ins Arbeitsleben immer weniger Steine in den Weg, ja fördert diese geradezu als Produktivitätsressource und Konsumsegment. Doch weil die Arbeits- und Freizeitnormalität eigentlich recht wohlbehüteter Politaktivisten der sozialstrukturellen Notstandthese wiederspricht, wird die gute Laune von Hamburg und ganz konkret der anpolitisierte Techno-Rave »Lieber tanz ich als G20« zur »Aneignung des urbanen Raums« und zur Selbstermächtigung aufgewertet. Als ob sich nicht jede Eventagentur einer Großstadt um solche engagierten Veranstaltungskollektive reißen würde, die das Stadtmarketing fördern und der Gewerbesteuer nützen. 

Mit mehr Realitätssinn sortierte die Hamburger Staatsanwaltschaft auf der Grundlage ihrer Ermittlungen einen großen Teil der Festgenommenen als »erlebnisorientierte Jungerwachsene« ein. Den G20-Protest hätten jene als Event betrachtet, wie sonst ein Musikfestival. Charakteristisch für diese Gruppe sei das Bedürfnis nach einem Adrenalinrausch, der beim Angriff auf die Polizei einen Höhepunkt erlebt. Die Beschreibung der Behörde deckt sich mit den autonomen Selbstauskünften, es wäre quatsch sie als staatliche Entpolitisierung des Widerstandes abzutun. Vielmehr wird deutlich, dass die Festivalatmosphäre von Hamburg kein Vorzeichen einer anderen und besseren Welt war. Sie reproduzierte nur, was ohnehin auf der Tagesordnung steht. Die Lust auf Action und innige Gemeinschaft ummantelt von Moral ist Ausdruck subjektiver Gefühlswelten, die heute typisch sind. Das Streben nach besonders lebenswerten Momenten, nach dem Außergewöhnlichen ist in der »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) das vorherrschende kulturelle Paradigma und nicht die andere Seite der Welt. 

Einen Hinweis auf die Allgemeingültigkeit dieses Prinzips zeigte sich gewissermaßen Barrikaden übergreifend. Auch eine Berliner Polizeieinheit war von der Sehnsucht nach emotionaler Eindrücklichkeit beseelt. Abkommandiert an die Elbe feierte sie in ihrem Containerdorf im Norden von Hamburg eine wilde Party. Die Beamten gönnten sich Alkohol und rauchten ganz multikulti Shishas. Lautstark soll es zugegangen sein und auch von Sachbeschädigungen wurde berichtet. Ein Polizisten-Pärchen wurde beim Sex in der Öffentlichkeit beobachtet, eine Kollegin tanzte nur mit Bademantel bekleidet und Waffe in der Hand auf dem Tisch. Die Berliner Morgenpost berichtete von einer »erheblichen Enthemmung«, die bei der Party offenbar recht schnell eingetreten sei.

Je mehr die liberale Umgebungskultur die eigene Daseinsberechtigung zu untergraben droht, desto fester klammern sich linke Militante an ihren letzten identitätsstiftenden Strohhalm: politische Gewalt. Nicht ohne Grund lebte in den letzten Jahren die insurrektionalistische Idee des permanenten Aufstandes wieder auf, die sich als kämpferische Antwort auf die Totalität der Verhältnisse versteht. Doch kann auch die pathetische Beschwörung des permanenten Aufstandes nicht darüber hinwegtäuschen, wie stark man dem Bestehenden verhaftet bleibt. Was als grundlegende Verweigerung und Vorschein einer anderen Welt hinter der Barrikade präsentiert wird, entpuppt sich unter der Schutzhülle revolutionärer Mimikry als eher schlichte Bedürfnisbefriedigung. Sie gilt Sehnsüchten nach existenziellen Erfahrungen, emotionalen Ereignissen und medialer Resonanz, deren Erfüllung sich auch die Angehörigen der Berliner Polizei wünschen. Und so verteidigt man in einer Gesellschaft, deren Konkurrenzsubjekte in unterschiedlichen Lebenswelten nach dem Besonderen streben, die eigene mit angestaubter politischer Staffage und Krawall.

Wie wichtig die Funktion der Militanz als Sinnstiftung ist, lässt sich auch daran feststellen, dass ihre Infragestellung komplett abgewehrt wird. Man wolle »eine möglichst große Bandbreite der Diskussionen der radikalen Linken« abbilden, formulierten die Herausgeber eines Sammelbandes über die Hamburger Randale, um dann einzuschränken, dass Beiträge, die sich »einfach vom Geschehen distanzieren« ausgeschlossen wurden. Selbst diejenigen, deren Manöverkritik ein bisschen umfassender ausfiel, betonten ständig ihre grundlegende Zustimmung zur Militanz im Allgemeinen. Wer dem Militanzgebot die Anerkennung versagt, den trifft schnell der Vorwurf, die strukturelle Gewalt des Kapitalismus zu verschleiern und sich mit staatlichen Deutungsmustern an der Kriminalisierung der Linken zu beteiligen. Der Hinweis auf die Gewalt im Staat und in den ökonomischen Strukturen ist dabei vor allem Ausweis einer autistischen Selbstbezogenheit, mit der sich radikale Linke gegen Einsprüche immunisieren. Ebenso wie gegen die Einsicht, dass der demokratische Staat im Normalbetrieb zwar Gewaltverhältnis ist, doch gleichzeitig eine zivilisierende Verregelung zwischenmenschlicher Verhältnisse garantiert. Exklusiv zwar, aber auf einem Niveau, das linke Militanz immer wieder unterboten hat. Insofern muss man sich keine Illusionen machen. Anschläge und Krawalle werden wiederkehren – in absehbarer Zeit nicht in irgendeiner Weise staatsgefährdend oder als Neuauflage des bewaffneten Kampfes illegaler Gruppen. Dafür fehlt die ideologische Stabilisierung, die bis 1989 noch den kühnsten Illusionen einen Rest von Realitätsgehalt gab. Zu erwarten ist linke Gewalt bis auf weiteres so wie sie in Leipzig und Hamburg immer wieder zu besichtigen ist: als kleine, gemeine politische Groteske, weltfremdes Historienschauspiel und Selbstverwirklichung mit Eventcharakter.


Der Text erschien redaktionell bearbeitet in der Jungle World Nr. 7/2020